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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Tom Finnek
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im ersten Stock. Wie bei den meisten Häusern in der Umgebung fiel der Putz von den Wänden, die hölzernen Stützbalken und Fensterläden waren verwittert. Je weiter die Pferdebahn nach Osten gefahren war, desto ärmlicher waren die Behausungen geworden. Mit bangem Blick hatte Celia vom Wagen aus verfolgt, was sich ihr im Halbdunkel der relativ breiten Hauptstraße und im Gewirr der kleineren Nebengassen und Höfe präsentierte. Sie sah betrunkene Männer, die durch die Gossen wankten oder an Mauern gelehnt ihren Rausch ausschliefen, aber auch schamlos gekleidete Frauen, die sich in aller Offenheit vor den zahlreichen Pubs den Freiern anboten, und zerlumpte Kinder, die neben der Straßenbahn herliefen, um die Passagiere anzubetteln oder zu beschimpfen, wenn sie kein Geld herausrücken wollten. Ganze Familien sammelten sich unter den Gaslaternen, um dort auf einer Sitzbank die Nacht zu verbringen. Obwohl die Sonne vor mehr als einer Stunde untergegangen war, tummelten sich die Menschen auf den Straßen, als hätten die meisten von ihnen kein Zuhause. Als Celia im Vorbeifahren auf der linken Straßenseite das Gebäude mit der Hausnummer 123 erkannte, stieß sie einen leisen Schrei aus, fasste sich an die Brust und hatte beinahe Angst, an der nächsten Haltestelle die Straßenbahn zu verlassen.
    Es waren nicht das vernachlässigte Aussehen der Fassade oder die Erbärmlichkeit der Nachbarschaft gewesen, die Celia einen solchen Schrecken eingejagt hatten, sondern das vollständige Fehlen eines Schildes oder Schaufensters. Wieder starrte sie auf die Ansichtskarte in ihrer Hand und verglich sie mit dem darauf abgelichteten Original. Wo auf dem Papier ein Holzschild mit der Aufschrift »The Silver King« über dem Eingang prangte, da befand sich nun ein dunkles Loch im Mauerwerk. Und wo auf dem Bild ein Schaufenster mit Plakaten und Bildern auf vermeintlich sehenswerte Kuriositäten und absonderliche Gestalten aufmerksam machte, da sah Celia nur eine mit Brettern verschlagene und glaslose Nische. Das Kuriositätenkabinett des sogenannten »Silberkönigs« war verschwunden, die gesamte Ladenwohnung verwaist und vernagelt.
    Celia drehte die Postkarte um, und obwohl es zu dunkel war, um irgendetwas zu entziffern, las sie in Gedanken die Worte, die sie längst auswendig kannte:
    An Mr. Sydney Egerton, County Tavern,
    118 Millbank Street, Northam, Southampton.
    Lieber Mr. Egerton.
    Bin in London angekommen. In dringenden (!) Fällen – Nachricht an Tom Norman, The Silver King, 123 Whitechapel Road, London E.
    Beste Grüße
    Ned Brooks
    Beim Blick auf die leer stehende Ladenwohnung dachte Celia an das, was Mr. Egerton, der Wirt der County Tavern, ihr prophezeit hatte. Noch am Morgen hatte er sie gewarnt: »Du wirst deinen Vater nicht finden. Nicht in London und auch sonst nirgendwo. Weil er nämlich nicht gefunden werden will. Lass es bleiben, Kind, und fahr nach Hause!«
    »Ich hab kein Zuhause mehr.«
    »Dann such dir ein neues«, hatte Mr. Egerton achselzuckend geantwortet. »Aber nicht bei Ned Brooks. Das würdest du nur bereuen. Vergiss deinen Vater, das ist mein Rat. Er ist es nicht wert.«
    Als Celia am Abend zuvor nach der mehr als zweitägigen Überfahrt von Brightlingsea in Southampton angekommen war, hatte der befreundete Schiffszimmermann sie in einem bescheidenen, aber respektablen Gasthof in der Nähe des Jachthafens unterbringen wollen, doch Celia hatte sich lediglich bei den Seeleuten für die Unterstützung bedankt und sich gleich zum Stadtteil Northam aufgemacht, um nach der County Tavern Ausschau zu halten. Das freundliche Angebot des Zimmermanns, sie zur Millbank Street zu begleiten, hatte sie dankend und mit dem Hinweis auf die »Familienangelegenheit« ausgeschlagen.
    Celia hatte nicht lange suchen müssen. Die County Tavern war eine düstere und heruntergekommene Seefahrerschänke nur einen Steinwurf von den Northam Docks entfernt. Das Innere der Schänke war ebenso trostlos wie die äußere Erscheinung. Bärtige Männer saßen schweigend an grob gezimmerten Tischen und starrten missmutig auf ihr Bier, das in riesigen Humpen vor ihnen stand. Niemand schaute auf, als sie die Schänke betrat, und obwohl sie das einzige weibliche Wesen in dem verräucherten und spärlich beleuchteten Raum war, schien auch der Wirt kaum Notiz von ihr zu nehmen. Celia kam sich beinahe vor, als hätte sie ein Wachsfigurenkabinett betreten. Auf ihre Frage, ob er einen Seemann namens Ned Brooks kenne, zuckte der Wirt
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