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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Tom Finnek
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Typhus sei nun mal nicht zu spaßen, meinte der Arzt in mahnendem Ton und versprach, regelmäßig nach dem Rechten zu sehen. Da Celia sich bislang nicht angesteckt habe, sei nicht davon auszugehen, dass sie noch erkranken werde. Und der Mann vom Gemeinderat, der zuvor immer nur genickt und geschwiegen hatte, fügte väterlich hinzu, dass Celia in der betreffenden Zeit natürlich mit allem Nötigen versorgt würde. Dafür komme die Gemeinde von All Saints selbstredend aus Spendenmitteln auf. Sie überreichten ihr das Schreiben und verabschiedeten sich.
    Celia nickte verschüchtert, schloss hinter ihnen die Tür und hörte, wie draußen etwas an die Wohnungstür genagelt wurde. Vermutlich eine amtliche Verlautbarung oder etwas in der Art. Für einen kurzen Augenblick befürchtete sie, man werde die ganze Tür vernageln, als wäre die Pest im Haus. Doch dann hörte sie die Schritte der Männer auf der Treppe und das Schlagen der Haustür, und im selben Moment traf sie eine Entscheidung. Sie wollte sich nicht so ohne Weiteres wegsperren lassen, denn sie hatte nichts verbrochen. Und auf die Almosen der Gemeinde konnte sie erst recht verzichten. Plötzlich erschien ihr der Gedanke, nach Southampton zu fahren und ihren Vater zu suchen, gar nicht mehr so abwegig. Jedenfalls nicht abwegiger, als in Brightlingsea zu bleiben, wo sie weder Familie noch Arbeit hatte und man sie nun auch noch wie eine Gefangene behandelte.
    Celia wusste, dass in den frühen Morgenstunden des kommenden Tages eine Segeljacht, die in den Docks überholt worden war, nach Southampton überführt werden sollte. Ein Freund der Familie hatte als Schiffszimmermann bei der Reparatur geholfen und Celia davon erzählt, dass er die Gelegenheit nutzen wolle, an der Südküste entlang nach Southampton zu gelangen, um dort auf einem großen Segler anzuheuern und nach Amerika auszuwandern. Es kam ihr vor wie ein Wink des Schicksals. Nichts sprach dagegen, dass Celia ihn auf dem ersten Teil seiner Reise begleitete. Es musste ja niemand erfahren, was die wahren Gründe dafür waren. Sie würde lediglich behaupten, sie müsse dringend in einer Familiensache nach Southampton. Da ihre Mutter gerade gestorben war, würde niemand an Bord peinliche Fragen stellen oder ihr die Mitfahrt verweigern.
    Kurz vor Sonnenaufgang stand sie mit ihrem Lederkoffer an den Docks. Und ehe jemand im Ort von ihrem Vorhaben erfuhr, war sie schon auf dem Weg zur Südküste Englands. Heimlich und ohne sich zu verabschieden. Genau wie ihr Vater vor acht Jahren.
    Jemand rief: »Whitechapel Road und Mile End!«
    Celia wachte wie aus einem Traum auf und schaute sich verwirrt um. Sie war so in ihren Erinnerungen versunken gewesen, dass sie kaum auf ihre Schritte oder die Umgebung geachtet hatte. Sie hatte lediglich die Anweisungen des Droschkenkutschers befolgt, war an der Themse entlang zum Tower und von dort weiter in nordöstlicher Richtung gelaufen. Inzwischen war die Sonne untergegangen, und die schmalen und eng bebauten Straßen wurden von den spärlichen Gaslaternen nur notdürftig beleuchtet. Auch der beinahe volle Mond stand so tief über den Dächern, dass sein Licht nicht bis auf den Boden fiel. Celia stand an einer viel befahrenen Straßenkreuzung und las auf einem Metallschild an einer Hauswand: »Fenchurch Street«. Wieder rief jemand: »Whitechapel Road und Mile End!« Und eine Glocke wurde geschlagen.
    Celia schaute in Richtung der Glocke und sah etwas, das sie noch nie zuvor gesehen hatte: einen Wagen, der auf in das Straßenpflaster eingelassenen Schienen fuhr und von Pferden gezogen wurde. Eine Pferde-Eisenbahn. Auf einen derart seltsamen Einfall konnte man nur in einer Stadt wie London kommen, dachte Celia. Und vielleicht war es gerade die Absonderlichkeit des Gefährts, die Celia auf die Kreuzung laufen und dem uniformierten Mann auf dem Führerstand zuwinken ließ.
    »123 Whitechapel Road?«, fragte sie.
    »Macht ’nen Penny die Meile.«
    Celia öffnete ihre Geldbörse und zögerte beim Anblick der wenigen Münzen, die noch darin waren. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
    »Ha’penny tut’s auch«, sagte der Bahnkutscher und zwinkerte ihr zu. »Weil’s schon so spät ist, Miss.«
    Celia lächelte dankbar, gab dem Mann die Bronzemünze und stieg in den Waggon der Straßenbahn.
     
     
    * Anmerkungen und Übersetzungen im Anhang

2
    Das Haus mit der Nummer 123 war ein unscheinbares zweistöckiges Backsteingebäude mit rotem Spitzdach und einem weit vorstehenden Erker
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