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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Tom Finnek
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gebrabbelt hatte, hatte niemand mit Bestimmtheit sagen können, ob sie tatsächlich bei Verstand war oder irre redete.
    »Southampton?«, fragte Celia, ohne den Worten der Mutter allzu viel Bedeutung beizumessen. »Woher willst du das wissen?«
    »County Tavern«, antwortete die Mutter und lachte ein beängstigendes Lachen. »Dein Vater ist ein Verbrecher! Ein verdammter Teufel! Hüte dich vor ihm, Celia!« Damit schloss sie die Augen, stieß einen letzten Seufzer aus und verstummte.
    Celia war so entsetzt von diesen Worten, dass sie erst nach einem Moment begriff, dass ihre Mutter gerade gestorben war. Seit Tagen wartete sie darauf, dass die Qualen der Mutter ein Ende fanden und sie von ihrem Leiden erlöst wurde, doch als es nun so weit war, vergaß Celia, der Mutter die beiden Pennys, die sie auf dem Nachttisch bereitgelegt hatte, auf die geschlossenen Augen zu legen.
    Hüte dich vor ihm, Celia! Was für ein seltsames und zugleich bedrückendes Vermächtnis. Und eine Anklage obendrein.
    Vermutlich hätte Celia wenig auf die im Fieberwahn gesprochenen Worte der sterbenden Mutter gegeben, wenn sie nicht wenige Tage später – die Mutter war gerade beerdigt und ihre Kleidung und Bettwäsche verbrannt – beim Aufräumen der Wohnung auf die unscheinbare Emailledose in einem Schubfach des Küchenschranks gestoßen wäre. Neben dem bestickten Taschentuch, von dem Celia zwar gehört, das sie aber noch nie zu Gesicht bekommen hatte, hatte sie in der Blechdose auch die handtellergroße Fotografie gefunden, auf der Celia, ihre Mutter und ihre beiden Brüder Peter und John vor einer auf Leinwand gemalten Heidelandschaft posierten. Außerdem befanden sich mehrere Zeitungsausschnitte, einige lose Zettel, ein kleines London-Handbuch und wertloser Nippes wie schimmernde Fischköder aus Perlmutt oder bunte Glasperlen darin. Celia überflog hastig die Papiere und hielt plötzlich den Atem an, als sie auf zwei geschriebene Worte stieß, die sie unlängst aus dem Mund der Mutter gehört hatte: »County Tavern«.
    Sie hielt einen Brief in der Hand, der von ihrem ehemaligen Nachbarn Mr. Hutchinson stammte und vor etwas mehr als vier Jahren, im März 1884, geschrieben worden war. In krakeliger Handschrift hatte der alte Walfänger, der im vergangenen Jahr vor Grönland aus der Takelage in den Tod gestürzt war, folgende Worte zu Papier gebracht:
    Libe Mary,
    dachte es würd dich intressiern, das dein Ned noch lebt.
    Hab ihn gestern in Southampton gesehn in der County Tavern in Northam. Da wont er auch, bei den Egertons, wenn er nich grade auf See ist.
    Er wollte nich, das ichs dir verrate, weil er von Brigtlingsea nix mehr wissen will, sagt er. Aber ich dachte, wo wir doch immer gute Nachbarn warn und all das, sag ichs trotsdem. Ned ist immer noch der alte, säuft vil und redet wenig. Aber wem sag ich das.
    Also machs gut und grüs Betty von mir.
    Bis zum Sommer, wenn ich wider in Brigtlingsea bin. Dann mehr.
    Bart Hutchinson
    Southampton also, dachte Celia, nachdem sich der erste Schrecken gelegt hatte. Sie schob den Brief zurück in die Dose. Vier Jahre waren eine lange Zeit, ging es ihr durch den Kopf, und wer konnte schon wissen, ob der Vater immer noch in der County Tavern logierte. Vielleicht hatte er sich inzwischen zu Tode gesoffen oder er war auf hoher See umgekommen. Das tat auch gar nichts zur Sache, schalt sie sich im selben Augenblick, denn es änderte nichts daran, dass er sie feige im Stich gelassen hatte und nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. Und niemals wäre Celia auf die abenteuerliche Idee gekommen, nach Southampton zu fahren, wenn nicht plötzlich Dr. Arthur, Mutters behandelnder Arzt, mit einem Mitglied des Gemeinderats vor der Tür gestanden hätte. Er sagte etwas von behördlichen Maßnahmen und zwangsweiser Quarantäne und überbrachte ein amtliches Schreiben aus Colchester, das ihr für mehrere Wochen und unter Androhung von Strafe bei Nichtbefolgung den Umgang mit allen Menschen und das Verlassen der Wohnung untersagte.
    Celia verstand nicht, was die Männer von ihr wollten. Schließlich hatte sie seit Mutters Tod schon oft das Haus verlassen und sich um die Beerdigung und die Begleichung der Schulden gekümmert. Ihre Mutter war seit Wochen krank gewesen, und in der ganzen Zeit hatte niemand von Quarantäne gesprochen.
    »Das Schreiben kommt aus Colchester«, sagte Dr. Arthur und deutete auf den amtlichen Stempel, als wäre das ein schlagkräftiges und nicht zu debattierendes Argument. Mit
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