Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
doch dann besann sie sich, schulterte ihren Koffer und ging keuchend weiter. Das wenige Geld, das sie noch besaß, durfte sie nicht verschleudern, nur weil ihr die Füße und der Rücken von der langen Zugfahrt schmerzten, die sie weitestgehend im Stehen hatte verbringen müssen. Oder weil die Gassen, durch die sie ging, zusehends schmaler, dunkler und dreckiger wurden.
    Links und rechts der Bahntrasse stießen die backsteinernen und rußgeschwärzten Häuser nun regelrecht an die über Stahlkonstruktionen führenden Gleise. Hier staute sich der Verkehr wie vor einem Nadelöhr. Celia stieg ein so beißender Geruch in die Nase, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie sah sich um und las auf einem rostigen Schild über einer Hofeinfahrt: »Potts’ Vinegar Works«. Auf der anderen Straßenseite befand sich die Brauerei Barclay, Perkins & Co., die ihr Bier bis nach Essex lieferte – Celia kannte das Zeichen der Firma von den Pubs in ihrer Heimat. Direkt neben der Brauerei standen die baufälligen Hütten und windschiefen Hallen einer Färberei.
    Es roch nach Brausud, Hopfen, Essig, Teer und Kohle. Überall ragten Fabrikschlote in den Himmel und stießen schwarzen Qualm in die kühle Oktoberluft. Celia wurde übel von dem Gestank, deshalb hielt sie sich das bestickte Leinentaschentuch ihrer Mutter vor die Nase. Weil das Tuch seit vielen Jahren unbenutzt in der Kommode gelegen hatte, war es nach dem Typhustod der Mutter nicht wie der Rest der Kleidung verbrannt worden. Das kleine Textil war einst das Verlobungsgeschenk von Celias Vater gewesen. In einer Ecke hatte er Mutters Namen mit rotem Faden einsticken lassen: Mary.
    Außer dem Taschentuch und einigen wertlosen Gegenständen wie einer emaillierten Blechdose und einem vergilbten Familienfoto war ihr nichts von der Mutter geblieben. Was nicht aus Angst vor Ansteckung verbrannt worden war, hatte Celia zum Pfandleiher gebracht, um die Ärzte zu bezahlen und für die Beerdigung aufzukommen. Immerhin hatte Celia auf diese Weise dafür gesorgt, dass Mary Brooks nicht in einem namenlosen Grab auf dem Armenfriedhof von All Saints bestattet wurde. Alle Schulden waren getilgt, alle Rechnungen beglichen, auch die Miete war bis auf den letzten Penny gezahlt. Und das von ihrem letzten Geld. Da Celia sich in den letzten Wochen ausschließlich um ihre sterbenskranke Mutter gekümmert hatte und kaum dazu gekommen war, ihrer Arbeit als Näherin und Schneidergehilfin nachzukommen, stand sie nun fast völlig ohne Mittel da.
    »Vorsicht, Miss!«, schrie eine Männerstimme. »Aus dem Weg!«
    Celia fuhr auf und wich hastig einen Schritt zurück. Im gleichen Augenblick donnerte ein zweispänniger Lastwagen um Haaresbreite an ihr vorbei. »Verdammt noch mal! Hast du keine Augen im Kopf?« Der Fluch des Fuhrmanns verhallte im Wind, der kühl und heftig aus nördlicher Richtung blies.
    Celia sah sich mit wild klopfendem Herzen um und erkannte, dass sie die High Street von Southwark erreicht hatte. Dies war die Straße, in der ihre Mutter vor vielen Jahren gelebt hatte. In einem der zahlreichen Gasthöfe, die die breite Hauptstraße säumten, hatte sie eine Zeit lang als Dienstmagd gearbeitet, bevor das Schicksal sie nach Essex verschlug, wo sie den Seemann Ned Brooks geheiratet hatte. Celia suchte nach einem Schild oder Zeichen, das auf das George Inn hinwies, doch in der Straße wimmelte es von Läden, Gasthäusern und einfachen Gin-Schänken, sodass ihr bald der Kopf brummte. Und was hätte sie auch davon gehabt, das Gasthaus zu entdecken? Ihre Mutter hatte wenig Gutes über die Schänke und ihren Besitzer zu berichten gewusst. Und es war sicherlich kein Zufall gewesen, dass sie sich ausgerechnet in einem verschlafenen Nest wie Brightlingsea niedergelassen hatte. »London laugt einen aus«, hatte die Mutter immer wieder gesagt, und doch hatte Wehmut in ihren Worten mitgeklungen. Als trauerte sie einer vertanen Chance nach.
    Celia passierte eine sehr alte Kirche zur Linken und einen unansehnlichen Bahnhof zur Rechten und ging mit immer schneller werdenden Schritten zur nahen London Bridge, auf der sich der Verkehr staute, weil ein Lastkarren umgestürzt war und die Kisten und Körbe auf der Fahrbahn lagen. Als Celia den Scheitelpunkt der Brücke erreicht hatte, bot sich ihr ein beeindruckendes Panorama: Die Sonne ging gerade unter und tauchte London in ein warmes orangefarbenes Licht. Auf der Themse, die gen Westen von mehreren Brücken überbaut war, drängelten sich schwere
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher