Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Tom Finnek
Vom Netzwerk:
schlagartig einen säuerlichen Ausdruck an. Vermutlich weil er seine Zeit vergeudet und andere Kunden unbehelligt vorbeigelassen hatte. Sofort wandte er sich an einen jungen Gentleman, der sich eilends von hinten näherte, Celia grob zur Seite stieß und sie dabei achtlos mit seinem Reisekoffer streifte.
    »Bitte einzusteigen, Sir«, sagte der Kutscher, nahm dem jungen Mann den Koffer ab und fragte: »Wo soll es hingehen?«
    »Piccadilly, Ecke Dover Street«, antwortete der Mann, nahm den eleganten Zylinder vom Kopf, schüttelte sein langes, in der Mitte gescheiteltes Haar und stieg in das vorne offene Hansom Cab ein. »Zum Hatchett’s Hotel, aber etwas plötzlich, mein Guter!« Er strich seinen Gehrock glatt, klappte den vorderen Beinschutz herunter und fuhr sich geziert über den blonden Schnauzbart, der noch sehr an kindlichen Flaum erinnerte.
    Celia betrachtete den Gentleman neugierig, nicht nur weil er ein ebenso hübscher wie hochnäsig wirkender Mann war, sondern vor allem wegen eines auffälligen Muttermals auf seiner rechten Wange, das nur leidlich von einem dünnen Backenbart verdeckt war. Das Mal hatte die Größe einer Half-Crown-Münze und die Form eines Herzens.
    »Was gibt’s da zu starren, Mädchen?«, fuhr der Mann sie an und warf ihr durch das seitliche Fenster einen bösen Blick zu. »Schleich dich!«
    »Hast du nicht gehört, was der Gentleman gesagt hat?«, knurrte der Kutscher, verschnürte den Koffer auf der Ablage und stieg auf den erhöhten Sitz hinter dem Verdeck. »Verzieh dich gefälligst!«
    »In welche Richtung soll ich mich verziehen, Sir?«, fragte Celia und hielt ihren Koffer vor der Brust, als könnte er sie wie eine Rüstung schützen.
    »Wo soll das East End schon sein? Im Osten natürlich«, maulte der Kutscher, nahm die Zügel in die linke Hand und griff mit der rechten nach der Peitsche. Er hielt sie bereits in die Luft, um das Pferd anzutreiben, als er plötzlich innehielt und sich zu Celia umwandte. »Siehst du die Gleise da vorne?« Er wies auf eine Bahntrasse, die in der Nähe an der Waterloo Station vorbeiführte. »Folge ihnen, dann kommst du automatisch zur London Bridge Station. Dort musst du über die Themse und am Tower vorbei nach Nordosten. Ist aber ’n weiter Weg nach Whitechapel. Wirst in die Dunkelheit kommen.«
    »Das macht mir nichts«, antwortete Celia.
    »Keine Gegend für ’ne hübsche junge Miss«, wiederholte der Kutscher und tippte sich an den Bowler. »Schon gar nicht im Dunkeln.«
    »Danke, Sir! Ich komme schon zurecht.«
    Der blonde Gentleman in der Kutsche hatte das kurze Gespräch zunächst abschätzig und ungeduldig verfolgt, doch als er das Wort Whitechapel vernahm, hatte er sich plötzlich vorgebeugt und neugierig aus dem Fenster geschaut. Offenbar hatte die Tatsache, dass Celia ins East End wollte, sein Interesse geweckt. Er betrachtete sie eingehend, wobei sich sein Gesichtsausdruck merklich wandelte. Beinahe schien es ihr, als wäre er überrascht oder verwundert.
    Der Gentleman schüttelte den Kopf und fragte: »Wie alt bist du, Mädchen?«
    »Sechzehn, Sir.«
    »Sechzehn«, wiederholte der Mann und schüttelte erneut den Kopf. Dann öffnete er den Mund, als wollte er noch etwas sagen, doch im nächsten Augenblick setzte sich das Hansom Cab in Bewegung und verschwand auf der im Halbkreis führenden Zufahrtsstraße im Abendverkehr.
    Celia tat, wie ihr der Kutscher geraten hatte, und folgte den Bahngleisen nach Osten. Die Sonne stand nur noch eine Handbreit über dem Bahnhof Waterloo, und als Celia wenig später auf die viel befahrene Blackfriars Road stieß, hörte sie hinter sich das hübsche Glockenspiel der Turmuhr von Big Ben, das sie von einer Spieldose ihrer Mutter kannte. Anschließend erklangen sechs tiefere Glockenschläge.
    Der Kutscher hatte recht. Es war Mitte Oktober, und die Sonne würde untergegangen sein, bevor Celia den Tower, geschweige denn Whitechapel erreicht hätte. Doch was blieb ihr anderes übrig, als unbeirrt weiterzugehen? Sie kannte niemanden in London, sie hatte nur noch wenige Münzen in der Geldbörse, und das Einzige, was sie außer ihren Kleidern und einigen wenigen Erinnerungsstücken an ihre Mutter besaß, war die zerknitterte Ansichtskarte eines Kuriositätenkabinetts mit einer Adresse im East End: The Silver King, 123 Whitechapel Road, London E.
    Für einen kurzen Augenblick war sie versucht, auf einen der zahlreichen Pferdeomnibusse aufzuspringen, die auf der Blackfriars Road über die Themse fuhren,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher