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Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Titel: Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle
Autoren: Berndt Rieger
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Zukunftsschau war auf mein Leben und zugleich die Erklärung dafür, dass man mich so empfangen hatte, wie es geschehen war: Als Pesterreger, der die Kultur, die er befiel, zerstörte. Denn diese Insel war mein Leben selbst, und das bedeutete, dass alles an ihr älter war als ich, und unendlich größer und weiser und mächtiger.
     
    In der folgenden Nacht erschien mir meine Mutter im Altarraum eines Tempels, der auf der Kuppe eines Berges stand. Sie war so groß und schön, wie ich sie von einem Gemälde in meiner Erinnerung behalten habe, groß, stolz und afrikanisch, mit einem dunkel leuchten Antlitz. Sie stand neben mir, wie mir schien, doch der Junge, um den sie den Arm gelegt hatte, war nicht ich, sondern ein anderer, in dem ich den Schlächter im Goldmantel aus der Höhle erkannte. Es war seltsam, dass meine Mutter soviel größer war als er, wie aus dem Maßstab geraten. Ich erkannte daran, dass sie eine Göttin war, und er nicht nur ein Kind, sondern auch ein Sterblicher. „Das ist (der Name, den Sie aussprach, war unverständlich) mein Erster, dein Bruder“, sprach sie im Traum, „er ist mein geliebtes Kind, der Ältere. Ihm werde ich alles schenken, was ich habe. Ihm gehört mein Herz. Dich, meinen Jüngeren, kann ich nicht lieben. Ich kenne keine Gefühle, wenn ich dich sehe. Meine Eingeweide sind kalt geworden, seitdem ich dich spürte. Doch ich bin eine gerechte Mutter, Voodoo, und da mein Reich unteilbar ist, habe ich dich rufen lassen, um dich zu prüfen. Du sollst mit (der Name war unverständlich, etwas mit Klicklauten), dem Geliebten, um dein Erbe kämpfen. Denn obwohl du nicht wert bist, zu leben, bist du doch mein Sohn, und wenn du ihm sein Erbe raubst und ihn tötest, sollst du doch dein Erbe behalten und es nutzen und an dein Nachkommen vererben. Meine Macht, dich daran zu hindern, kann nur darin liegen, mich von dir abzuwenden.“
    Mit diesen Worten tat sie das auch, und sobald ich im Traum den Hinterkopf meiner Mutter sah, erblickte ich die Häupter von Schlangen, und mein Herz stockte und setzte aus. Davon musste ich erwacht sein, oder von den Erschütterungen meines Weinens, denn ich weinte bitterlich. Die Gesichtszüge meiner Mutter waren mir so unendlich lieblich und süß erschienen, und die kalten Mienen der lauernden Schlangen so erschreckend. Oder vielleicht sollte ich sagen, es weinte in mir. Etwas weinte aus dem Gefühl heraus, alles verloren zu haben, und dieser vage Begriff „Alles“ wurde mir im Erwachen völlig klar. Es war mein Leben, und wenn ich sage „es weinte“, dann war es die Hülle, die zurückgeblieben war. Merkwürdig aber, dass mein Weinen mir zugleich das Leben wiedergab, denn es war mit den ersten Strahlen der Sonne, als ich mich am Meeresstrand wieder fand, und so wie das Anbranden der Wellen sich mehr und mehr zurückzog, als sich das Meer von mir wegkrümmte, hörte die Verzweiflung langsam auf und ich merkte, dass ich einen Körper hatte und war zufrieden. Vielleicht ist „zufrieden“ ein zu starkes Wort, aber es war ein friedliches Gefühl des Frierens und Zitterns und Hungerns und Dürstens. Alle Empfindungen waren eine Gnade.
     
    Ich ahnte, dass meine Träume Wirklichkeit waren. Um zur überprüfen, ob es sich so verhielt, machte ich mich am folgenden Morgen auf die Suche nach dem Tempelberg, und während ich ihn suchte, merkte ich, dass ich ihn schon kannte. Vage Vorstellungen eines Tempelbergs hatten in mir schon länger bestanden, ich sah den weißen, rechteckigen Bau mit der hohen Tür, turmartig auf die Spitze eines Hügels gepflanzt, den die Natur quasi als Vorschlag bereitgestellt hatte, darüber so einen Tempel zu errichten, als Abschluss eines aus Urkräften entstandenen Ensembles. Das Terrain hier war hügelig, aber so dicht von Urwald bestanden, dass man ruhig auf einen hohen Baum klettern konnte, man sah nichts. Es dauerte einige Stunden, bis es mir dann gelang, mich zur Kuppe eines Hügels hoch zu arbeiten, von dort aber tauchte der Tempelberg selbst dann so nah und unmittelbar vor den Augen auf, dass man davon erschrak. In der Luftlinie mochte er nur eine Meile entfernt sein, und er war der einzige Berg, den es außer dem meinen im weiten Umblick gab. Diese Tatsache machte mich grübeln, denn ich wurde dadurch sofort an die Dualität erinnert, in die ich durch meinen Bruder gezwungen wurde. Wenn es zwei Hügel gab, war es nur logisch, dass er den Tempelberg besetzte, und ich den unbehausten, von Baumwurzeln durchdrungenen Hügel
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