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Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle

Titel: Voodoo Holmes - Holmes auf Haiti. Novelle
Autoren: Berndt Rieger
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diesen Tagen, und Tage müssen es gewesen sein, denn dazwischen kamen Nächte, in denen ich intensiver träumte als je zuvor. So wie ich am Tag eine Wachheit der Sinne erlebte, wie man es sonst nur jungen Tieren zuschreiben kann, öffnete sich mir in der Nacht im Traum ein weiteres Auge. Ich kann die Bilder und Gesichte, die dabei in mir aufstiegen, heute nicht mehr wiedergeben, aber es formten sich dabei Überzeugungen, die mich heute noch begleiten. Es war eine Schule des Denkens, und ein wichtiges Prinzip davon besteht darin, alles, was einem zustößt, ob nun in der Wirklichkeit oder in Gedanken, mit einander zu vergleichen, so als würde man Schablonen davon nebeneinander legen. Da war einerseits die Tatsache meiner Entführung aus einem englischen Internat und die Überfahrt auf eine karibische Insel. Man hatte mich mit Rauschdrogen betäubt, die Männer aber, die das getan hatten, waren gemeinsam mit mir vom Volk dieser Insel aufgeknüpft und wie Vieh geschlachtet worden, als hätten sie mit ihrer Handlung ein unausdenkliches Verbrechen begangen. Und obwohl ich ihr Schicksal zu teilen schien, hatte man mich doch im letzten Augenblick verschont und hierher in die Wildnis gebracht, ausgesetzt, so als stelle meine Tötung eine Sünde dar, die mit dem vergleichbar wäre, meine Ankunft bewirkt zu haben. Aber war es denn eine Wildnis, in der ich mit aufhielt – oder vielmehr das Paradies schlechthin? Alles hier war friedlich und angenehm. Es duftete, es schmeichelte der Haut, es wärmte, es liebkoste. Es war heiliger Boden, das spürte man. Hier stand die Zeit still, und sie tat es, damit diese Heiligkeit spürbar wurde, das Bewusstsein, an einen Seinszustand angebunden zu sein, der nicht von dieser Welt war, aber doch existierte. Vielleicht war dieser Zustand für jeden Menschen und jederzeit erreichbar. Vielleicht erwartete er einen aber auch nur einmal im Leben. Wenn man angekommen war. Oder bei der Geburt. Oder beim Tod. Jedenfalls hatte er nun, als ich ihn lebte, Bestand, und hier war er umso stärker spürbar durch die Weichheit des Sandes und die Wärme der Sonne. Er war hörbar im Summen und Zirpen der Insekten, das die Melodie zum Takt der rollenden Brandung spielte. Hier war ich sicher, das spürte ich, unberührbar wie ein Heiliger in seinem Tempel. Und doch musste ich für die Menschen, die hier lebten, eine existentielle Bedrohung darstellen, ein Eindringling sein, ein Keim, der sich in ihre Gemeinschaft vor fraß, der sie durchwuchs, der sie infizierte. Wie konnte man diese Widersprüche miteinander verbinden? Einerseits war ich aussätzig, andererseits heilig. Einerseits verkörperte ich für diese Menschen den Tod, andererseits das Leben. Obwohl man mich bei der kultischen Schlachtung meiner Begleiter an den Gelenken gefesselt und an die Decke einer Höhle gehängt hatte, war man mir gleichwohl nicht an das Leben gegangen. Was hatte all das zu bedeuten? Ich wusste es nicht, spürte aber, dass ich diese Gegensätze nur im Traum würde miteinander verbinden können, und legte mich deshalb jeden Abend voller Vertrauen in die Traumbucht, wie ich sie nannte. Dort war der Sand am Abend noch lange warm, und wenn man sich in ihn hüllte, trug einen das Rauschen der Wellen in den Schlaf.
    Ich träumte, und ich spürte dass das, was ich träumte, für mich von großer Bedeutung sein würde. In meinem ersten Traum umstand eine riesige Menschenmenge einen Berg, der von Fackeln hell erleuchtet war. Dieser Berg wurde von einem Tempel gekrönt, und ganz oben, auf den Zinnen dieses Tempels, stand ich selbst, im goldenen Gewand, und erwartete das Morgengrauen. Doch während ich davon träumte, dieser Mann zu sein, der Anführer seines Volkes und sein Priester, spürte ich zugleich, dass ich nicht dieser Mann war, sondern sein Gegenteil, dass ich der Blick auf diesen Mann war, das Gesicht, das mir eines Tages aus dem Spiegel eines Badezimmers entgegen leuchten würde, aber ich würde mich in ihm nicht mehr erkennen. Es würde das Gesicht eines fremden, alten Mannes sein. Da verstand ich im Traum, dass dieser Mann der Id war. Der Id war die Hülle, die es zu überwinden galt. Gegen das Alter zu kämpfen, das war eine Aufgabe, die schon in der Kindheit begonnen werden musste. Nur dann, wenn das Kind siegte, blieb man am Leben.
    Ich begriff in diesem Moment, dass diese Vernichtung des Id, von der meine Mutter gesprochen hatte, ganz konkret auf dieser Insel stattfinden würde, auf der ich mich befand, dass es eine
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