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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Autoren: Georg Heinzen
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aufgehängt!«
    Vor lauter Lachen verpasse ich die Autobahnausfahrt. Aber wenn wir dann in unsere Wohnung kommen, werden wir seltsam still. Dabei ist unsere Wohnung sehr schön, Altbau mit hohen Decken im Lehel. Wenn man sich aus dem Küchenfenster weit genug hinauslehnt, wobei man sich am Kühlschrank festhalten sollte, kann man die Isar sehen. Und sie gehört uns, die Wohnung. Die letzte Rate wird in diesem Monat bezahlt.
    »Mit 50«, meinte der Bankberater, als wir vor 20 Jahren den Kreditvertrag unterschrieben, »gehört die Wohnung Ihnen. Mietfrei genießen Sie Ihren Lebensabend.«
    Damals klang es wie ein Versprechen, heute wie eine Drohung.
    Jedenfalls: Wenn wir von den Besuchen bei Ninas Schwiegereltern nach Hause kommen, kommt uns unsere schöne Wohnung plötzlich schäbig vor. Bei uns hängen alle Bilder richtig herum an der Wand, nur sind es die unbekannten Werke von Freunden.
    Wir hatten uns damit getröstet, dass wir kulturelles Kapital bilden und an unsere Kinder weitergeben. Jetzt mussten wir feststellen, dass Leute wie Holgers Eltern neben dem richtigen Kapital auch noch kulturelles Kapital angehäuft hatten, auch wenn sie es nicht zu würdigen wussten.
    Warum begann ich plötzlich, über diese Fragen nachzudenken? Warum zog ich Bilanz? Warum blieb ich stehen und schaute zurück, anstatt einfach weiter durchs Leben zu gehen? Lag das an dem verdammten 50. Geburtstag, der sich vor mir auftürmte wie die Jahreshauptversammlung eines Unternehmens, wo der Vorstand Rechenschaft darüber ablegen muss, was er mit dem Geld der Aktionäre gemacht hat? Und nun fragte ich mich, ob es nicht ein bisschen wenig Rendite war, was wir unseren Kindern hinterlassen würden: eine Eigentumswohnung und ein kritisches Bewusstsein.

    Nina spürte schon lange, dass dieses Erbe nicht reichen würde, um im Global Village auf der Schlossallee zu wohnen. Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass sie sich für ihre Eltern schämte. Aber es hätte ihr gefallen, ein einziges Mal ein großes Fest zu feiern und wenigstens für einen Abend mit Holgers Eltern gleichzuziehen. Da war es schon eine herbe Enttäuschung, als ich entschied, keine große Party zu organisieren, sondern mit der Familie nach Kreta zu fliegen und im kleinen Kreis bei Jorgos zu feiern.
    »Warum versteckst du dich am Libyschen Meer?« fragte Nina, als ich sie bat, sich das dritte Wochenende im August freizuhalten. »Du kannst doch zufrieden auf dein Leben zurückblicken. «
    »Zurückblicken?« brach es aus mir heraus. »Sorry, aber ich bin noch nicht tot!«
    Nina hatte es doch nur nett gemeint: dass ich etwas aus meinem Leben gemacht hatte, nachdem es zunächst gar nicht danach aussah. Ich hatte Geschichte studiert, weil ich begreifen wollte, wie der Faschismus entstanden war, und Germanistik, weil mir nichts Besseres einfiel. Als ich endlich mit dem Studium fertig war, stellte ich verwundert fest, dass die Gesellschaft mich nicht brauchte. Ich war auf dem besten Weg, ein »Loser« zu werden, auch wenn es das Wort damals noch gar nicht gab.
    Eine Zeit lang schlug ich mich mit Gelegenheitsjobs durch, wie Messestände auf- und wieder abzubauen, womit ich mir schon während meines Studiums den Drink in der Disco und das Ticket nach Thailand finanziert hatte. Wenn mich die Kollegen in der Mittagspause fragten, was das denn sei, ein »Germanist«, und lachten, tröstete ich mich mit der Hoffnung, dass ich bald eine gesellschaftlich wichtige Arbeit machen und dafür viel besser bezahlt würde als sie. Aber aus dem Provisorium drohte ein Dauerzustand zu werden. Es war der Beginn einer neuen Zeit – die neoliberale Revolution. Der Paradigmenwechsel vom Wir zum Ich. Die Spaltung der Gesellschaft in Gewinner und
Verlierer. Erfolg als Leitwährung und Konsumismus als Religion.
     
    Plötzlich stand vor dem No Future , in dem wir zu London Calling die Fäuste gereckt hatten, ein Türsteher und erklärte: »Chic, no shock!«
    Damit meinte er meine abgewetzte Levis, die ich seit dem ersten Semester trug, und meine Turnschuhe, die noch älter waren.
    »Spinnst du?« fragte ich den Typen und erwartete, dass die Anderen, die ebenfalls vor der Disco warteten, sich mit mir solidarisieren würden. Wir hatten es geschafft, die Volkszählung zu stoppen, dann würden wir auch diesen lächerlichen Türsteher wegpusten. Ich zitierte Artikel drei des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland: »Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
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