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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Autoren: Georg Heinzen
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ungewollt passierte und nicht Teil eines Befruchtungsplans war wie bei Nina. Wir gehen einer geregelten Arbeit nach, besitzen eine Eigentumswohnung, sind etabliert. Trotzdem freuen wir uns, wenn in einem Land, dessen Namen wir nie zuvor gehört haben, der Diktator stürzt. Wenn geheime Dokumente, deren Inhalt wir nicht verstehen, bei
WikiLeaks veröffentlicht werden. Wenn die Lehman-Bank pleitegeht, selbst wenn wir dabei Geld verlieren. Weil wir, wie Nina findet, nicht erwachsen geworden sind.
    »Ihr«, und damit meint Nina nicht nur Martina und mich, sondern die Generation der Babyboomer , »lebt immer noch in der verlängerten Pubertät.«
    Bis vor kurzem habe ich mich darüber geärgert und gefragt, was wir bei dem Kind falsch gemacht haben. Nina konnte noch nicht laufen, da demonstrierte sie schon auf meinen Schultern gegen Atomraketen. Mit drei Jahren sah Nina ihren ersten Nouvelle-Vague-Film, im Original mit Untertiteln. Aborigines haben ihr den Mythos der Regenbogenschlange erklärt. Einer der Helden aus der Schweinebucht hat sie bei einem Besuch in Havanna auf den Knien geschaukelt. Sie hat unseren Frust aufgesogen, wenn alle vier Jahre der Dicke aus Oggersheim gewann, und unseren Jubel, als Rot-Grün ins Kanzleramt einzog. Wir schleppten Nina mit zu Konzerten der Toten Hosen und zu Aufführungen von Pina Bausch. Wir zeigten ihr, wie man benutzte Joghurtbecher spült und wie viel Spaß es macht, wenn man eine leere Flasche in einen Altglascontainer plumpsen lässt. Wir schickten sie zur Montessori-Schule. In der ersten Klasse saß neben ihr ein Junge mit Down-Syndrom, ihre beste Freundin kam aus dem Kosovo und hatte Vater und Brüder beim Massaker von Srebrenica verloren. Bei »Jorgos« durfte sie so lange aufbleiben, bis wir ins Bett gingen – selten vor Mitternacht. Während ihre Freundinnen Sonntagmorgens mit Disney-Filmen ruhiggestellt wurden, damit die Eltern ausschlafen konnten, las ich ihr das Bolivianische Tagebuch vor. Martina nahm sie mit zu den Vagina-Monologen , damit sie ein unverkrampftes Verhältnis zu ihrem Körper entwickelte. Wir hatten alles getan, dass aus unserer Tochter eine kritisch denkende, unabhängige Frau würde. Aber Nina hatte nichts Besseres zu tun, als mit 21 ein neoliberales Nadelstreifen-Arschloch zu heiraten. Sorry, das stammt nicht von mir, ist O-Ton Martina, als Nina zum ersten Mal ihren neuen Freund Holger mit nach Hause brachte.
Holger war zugleich ihr erster Freund, sodass Martina und ich uns schon Sorgen gemacht hatten, ob unsere Tochter vielleicht lesbisch sei.
    Das nächste Mal sahen wir Holger auf der Hochzeit in der Wieskirche, wo Martina und ich gar nicht wussten, wie wir uns verhalten sollten. Wir hatten nur standesamtlich geheiratet und waren danach mit dem Rucksack durch Indien gereist.
    Neun Monate nach Ninas Traumhochzeit in Weiß mit 500 Gästen – zum Glück mussten wir das nicht bezahlen – wurde ich dann Opa. Was hatten wir falsch gemacht?
    Nina war übrigens diejenige in der Familie, die die Idee vom »großen Fest«, mit dem ich meinen 50. Geburtstag feiern sollte, am stärksten vorantrieb. Noch mehr als Martina. Dabei ging es weniger darum, mein Lebenswerk zu würdigen – Nina wollte endlich bei Holgers Familie punkten.
     
    Holgers Eltern leben in einer Villa am Starnberger See. Da muss man ziemlich lange über weißen Kies fahren, der vornehm unter den Reifen knirscht und einem klarmacht, dass der Einzige, der hier sonst noch mit einem Kombi vorfährt, der Gärtner ist. Bei Ninas Schwiegereltern komme ich mir immer vor wie früher, als ich noch studierte und sonntagmittags zum Essen nach Hause fuhr. Es ist steif und förmlich, dabei sind die Eltern von Holger jünger als wir. Sein Vater ist Schönheitschirurg, die Mutter managt einen Aktien-Fonds. Martina und ich finden diese Leute schrecklich und wir fühlen uns unwohl: Jedes Glas Champagner, das wir dort trinken – bezahlt mit dem abgesaugten Fett unglücklicher Frauen, denen die Werbung eingeredet hat, sie seien zu dick. Jeder Happen Sushi – bezahlt vom Schweiß indischer Bauern, die um die Früchte ihrer Ernte gebracht werden, weil Holgers Mutter auf fallende Reispreise wettet.
    Auf der Rückfahrt machen wir uns immer lustig über die geschmacklose Einrichtung, die ein Star-Designer ausgewählt hat und den Charme einer Möbelabteilung versprüht.

    »Hast du den Baselitz gesehen?« amüsiert sich Martina. »Der steht auf den Füßen.«
    »Echt?«
    »Sie haben ihn falsch herum
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