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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Autoren: Georg Heinzen
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neuen Computer: Am Morgen nach meinem 50. Geburtstag würde ich nicht wach werden und bestimmte Körperfunktionen wären abgeschaltet, weil sich das Abonnement nicht automatisch verlängert. Hoffte ich zumindest.
    Ich sprach mit unserem Rektor, der dieses magische Datum schon hinter sich hatte. Er klopfte mir in der Mensa auf die Schulter, eine Geste, die ich eigentlich hasse, aber jetzt genoss, weil sie klarstellte, wer hier der Ältere war.
    »Du wirst erst 50, Thomas, das ist gar nichts. Der 60. Geburtstag, der ist hart. Da wird es langsam ernst.«
    Der Rektor kippte die Essensreste in den Abfall und stellte seinen Teller aufs Band, wo er langsam in der Spülmaschine verschwand. Mich erinnerte diese Szene an eine Feuerbestattung, der ich einmal beigewohnt hatte, wo sich der Boden öffnete und den Sarg verschluckte. Ich verstand die Botschaft und joggte am Abend ein paar Runden mehr, als ob ich dem Tod davonlaufen könnte.
    Vier Wochen! Nur noch vier Wochen bis zu diesem verdammten Datum – ratterte es in meinem Gehirn.
     
    Als ich vor ein paar Jahren nach einem Burn-out Autogenes Training machte, erklärte der Kursleiter, unsere Gedanken wechselten alle 30 Sekunden ihr Objekt. Bei mir übrigens alle 15 Sekunden, wenn nicht noch schneller. Ziel des Trainings war es, den Monkey Mind dazu zu bringen, einfach mal ein paar Minuten stillzusitzen, statt weiter zum nächsten Ast zu
springen. Dies sollten wir durch eine spezielle Atemtechnik erreichen. Ich schaffte es, ganze 60 Sekunden an eine einzige Sache zu denken, meistens war es Sex, bevor meinen Affen das Fell juckte und er weiter durch den Dschungel meiner Synapsen raste. Damit war ich das Schlusslicht im Kurs, wo ich das Gefühl hatte, die Frauen mit den kurzen, roten Haaren von der AStA-Party wiederzutreffen, die jetzt alle weiße Sachen trugen und ihren Monkey Mind die ganze Kursstunde lang auf einem Ast festnageln konnten. Zumindest behaupteten sie das, weshalb ich dort irgendwann nicht mehr hinging.
    Jetzt hockte der Affe stundenlang an derselben Stelle meines Hippocampus und ließ sich nicht mal durch ein Champions-League-Finale von dort vertreiben. Was 20 Stunden Autogenes Training nicht geschafft hatten ... Ich konnte mich plötzlich auf eine Sache konzentrieren, auch wenn ich es gar nicht wollte.
    Vielleicht nahm ich das alles zu wichtig? Das war doch eine reine Kopfgeschichte. Hätten die Babylonier nicht die Zeitrechnung erfunden, wüsste ich gar nicht, dass ich in einem Monat 50 Jahre alt würde. Ich könnte auch keine Statistik googeln, dass deutsche Männer im Durchschnitt 78,9 Jahre alt werden. Das wären fast 29 Jahre Galgenfrist, mehr als meine Zeit mit Martina. Außerdem, wer weiß, was sich bis dahin noch alles in der Medizin tun wird? Wenn heute Großmütter ihre eigenen Enkel zur Welt bringen, gibt es dann vielleicht ein spezielles Gen, ein Update, und alles fängt noch einmal von vorn an.
    Warum hörte ich nicht auf, nächtelang im Internet zu surfen und mir die Kommentare derjenigen anzuschauen, die diese unheimliche Deadline schon hinter sich hatten? Einfach den Ball flach halten. Vielleicht könnte ich mich sogar um meinen 50. Geburtstag herummogeln und ihn ausfallen lassen.
    »Du willst deinen 50. Geburtstag nicht feiern?!«
    So entschlossen, wie mich Martina damals vor den Feministinnen
verteidigt hatte, so entschlossen bestimmte sie jetzt, dass wir meinen 50. Geburtstag richtig feiern würden. Und mit »richtig feiern« meinte sie ein großes Fest. Genau das, was ich nicht wollte. Denn wenn ich mit Freunden und Kollegen feiern würde, wüssten ja alle, dass ich schon 50 wurde.
    »Aber du wirst 50!« insistierte Martina, die leicht reden hat, weil vor ihr noch beneidenswerte drei Jahre liegen, bis sie selbst 50 wird.
    Was sollte ich tun? Ich konnte meinen 50. Geburtstag nicht einfach aussitzen, so wie man Sylvester nicht ignorieren kann: Man kann natürlich am 31. Dezember um zehn Uhr abends ins Bett gehen und sich die Decke über den Kopf ziehen, weil man nicht mitbekommen will, dass das Jahr vorbei ist. Aber zum Jahreswechsel wird man von den Böllern wieder geweckt, die einem unüberhörbar klarmachen, dass ein weiteres Jahr vom Lebenskonto abgebucht wurde, während man den aktuellen Kontostand gar nicht kennt.
    Die Böller waren in meinem Fall die anderen, die mich daran erinnerten, dass ich bald 50 würde. Allen voran Martina. Dabei meinte sie es doch nur gut mit mir. »Du kannst stolz sein auf dein Leben«, wurde sie nicht müde,
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