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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Autoren: Georg Heinzen
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seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder seiner Turnschuhe«, ich war der Einzige, der lachte, »benachteiligt oder bevorzugt werden.«
    Ich erwartete Zustimmung aus der Warteschlange, vielleicht sogar einen kurzen Moment zivilen Ungehorsams, der dem Türsteher klarmachte, dass er auf verlorenem Posten kämpfte. Stattdessen waren die Wartenden der Meinung, ich sollte mich »verpissen«, am besten nach »drüben«. Damals gab es noch die DDR.
    Ich ging in eine andere Kneipe. Hier war die Musik nicht so gut, es gab kaum Frauen, und die wenigen Frauen, die da waren, sahen aus wie Männer. Dafür kontrollierte niemand meine Turnschuhe, auf den Tischen lagen Aufrufe, Geld für den bewaffneten Kampf der Sandinisten zu sammeln, und es lief Heavy Metal – als ob aufrichtige Gesinnung und gute Musik nicht zusammen passen würden.
    »Das lässt sich unsere Generation nicht gefallen«, erklärte ich ein paar anderen Langhaarigen, die zustimmend mit den Köpfen nickten. »Das No Future ist unser Laden. Hier habe
ich meinen ersten Joint geraucht. Hier sah ich zum ersten Mal zwei Frauen, die sich küssten, und ein paar Jahre später zwei Männer, die dasselbe taten. Das No Future ist ein Modell für die Zukunft. Die klassenlose Gesellschaft, versteht ihr?!«
    Immer noch nickten meine Zuhörer mit den Köpfen und zwar alle im selben Takt, und ich begriff, dass es weniger Zustimmung zu meinen Thesen war, sondern mit Ozzy Osbourne zusammenhing.
    Am nächsten Abend stand immer noch der Glatzkopf vor dem No Future und selektierte das Publikum in die Gruppe, für die sich die begehrte Tür öffnete, und jene, die draußen bleiben mussten wie ich, obwohl ich jetzt eine Stoffhose und schwarze Halbschuhe trug, die mir meine Eltern zur Beerdigung meines Großvaters gekauft hatten.
    »Gestern sahst du zwar echt runtergerockt aus, aber es hatte Stil«, kommentierte der Glatzkopf mein neues Outfit. »Heute bist du nur noch peinlich.«
    Ich versuchte ein Lächeln und ging. Kein Protest. Keine Mahnwache. Keine Unterschriftenaktion. Unsere ganzen Strategien für eine bessere Welt scheiterten an der geschlossenen Tür einer Disco. Statt dass sich alle Abgewiesenen solidarisierten, schämte sich jeder allein. Wir verzogen uns still und leise und beugten uns der neuen Macht.
     
    An diesem Abend hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich etwas viel Grundsätzlicherem beiwohnte, als dass eine Disco den Dresscode änderte. Die neoliberale Machtergreifung vollzog sich schnell und unumstößlich. So wie das No Future plötzlich nicht mehr allen gehörte, sondern denen, die das Geld hatten, die passenden Klamotten zu tragen und die teuren Cocktails zu bezahlen, die es dort jetzt gab, wurden auf der ganzen Welt Dinge, die bisher öffentliches Eigentum waren wie Eisenbahnen, Strände, Staaten, privatisiert. Alles wurde privatisiert, sogar der Fußball. Während ich mir im Fanblock tapfer den Arsch abfror, gab es über unseren Köpfen plötzlich eine neue Oberschicht. Abgeschirmt hinter Glasscheiben
tranken wichtige Männer in Anzügen und schöne Frauen in Abendkleidern Champagner, während wir auf den Stehplätzen alkoholfreies Bier aus Plastikbechern in uns hineinschütteten.
    Ironischerweise erwies sich die neoliberale Revolution für mich persönlich als Glücksfall. Denn auch die Zeitungsredaktionen wurden dereguliert. Es wurden keine neuen Leute mehr eingestellt, die Arbeit wurde outgesourced und an die immer größer werdende Gruppe akademischer Tagelöhner wie mich vergeben, die mittags noch an der Uni herumhingen, obwohl sie keine Studenten mehr waren, weil es in der Mensa für zwei Mark ein Dreigängemenü gab.
    Ich begann, Filmkritiken für ein Stadtmagazin zu schreiben. Dieses Stadtmagazin, das aus einer Hausbesetzung entstanden war, wurde auch gerade privatisiert. Die ehemaligen Straßenkämpfer verkauften die Rechte an ein überregionales Konsortium. Ich protestierte mit den üblichen Verdächtigen gegen diesen »Ausverkauf von Vielfalt« – im Formulieren von politischen Anklagen war ich wirklich gut. Trotzdem hatte ich keine Skrupel, ein paar Wochen später meinen ersten Scheck entgegenzunehmen – 24 DM für 80 Zeilen über Paris, Texas , den ich langweilig fand, aber trotzdem empfahl, weil ich nicht sofort wieder aus dem Verteiler des Filmverleihs fliegen wollte, nachdem es mich einige Telefonate gekostet hatte, darin aufgenommen zu werden.
    Um es kurz zu machen: Weil das
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