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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Autoren: Georg Heinzen
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mich zu trösten. »Deshalb solltest du diesen Freudentag mit all den Leuten feiern, die in deinem Leben wichtig sind.«
     
    An einem Samstagabend saßen wir am Küchentisch, tranken eine Flasche Wein und machten eine Liste: Wer war wichtig in meinem Leben? Meine Eltern, klar, sonst würde es mich nicht geben. Aber meine Mutter ist vor ein paar Jahren an Krebs gestorben, und mein Vater lebt im Altenheim. Er ist dement und hat alles vergessen: seine Frau, seinen Namen, sogar, dass er früher Hals-Nasen-Ohren-Arzt war. Nur mir bei jedem Besuch vorzuwerfen, dass aus mir nichts Vernünftiges geworden ist, hat er seltsamerweise nicht vergessen. Dann gibt es Renate, meine Freundin vor Martina, die dafür verantwortlich ist, dass ich zwei Semester versäumte, weil
ich mit der Trennung nicht klarkam und mich jeden Abend betrank. Mein großer Bruder ist auch wichtig. Weil er immer Schulbester war, blieb für mich nur die Rolle des Bösewichts übrig, damit mich meine Eltern überhaupt wahrnahmen. Lauter Leute, die mein Leben verändert haben. Aber wollte ich die sehen? Und die ganzen alten Freunde, Kumpels und Kommilitonen, die einem zufällig auf dem Marienplatz über den Weg liefen – man bleibt stehen, schaut sich an und überlegt, wohin man das Gesicht stecken soll, das so alt und grau geworden ist, seitdem man es zum letzten Mal in der Vorlesung gesehen hat, die der Professor extra auf den Freitagnachmittag gelegt hatte, um uns zu ärgern. Bis einem das Erstaunen des Anderen klarmacht, dass man in einen Spiegel schaut.
    Warum sollte ich mir dieses »Hätte dich fast nicht erkannt! « hundertmal an meinem Geburtstag anhören? Die immer wieder neue Erkenntnis, dass wir alte Säcke waren.
    Wer war noch wichtig? David, unser Sohn, und Nina, unsere Tochter. Aber David hätte sicher keine Zeit, zu meiner Geburtstagsparty zu kommen, obwohl wir ein gutes Verhältnis haben. David ist Aktivist bei Attac. Da kann es gut sein, dass er an meinem 50. Geburtstag nach Gorleben muss, um den Castor-Transport aufzuhalten. Dafür hat David mein vollstes Verständnis, denn während ich und meine Generation die Ressourcen vernichten, indem wir immer älter werden, kämpft David um die Zukunft des Planeten.
    Nina würde ganz bestimmt kommen, allein schon, um allen zu zeigen, dass ihre Zwillinge Anna-Lena und Sophie-Charlotte schon mit zwei Jahren die Kleine Nachtmusik auf der Blockflöte spielen können – für den »Opa«. Ein Wort, bei dem ich immer noch zusammenzucke, auch wenn ich inzwischen Zeit hatte, mich daran zu gewöhnen.
    Opas , das sind für mich weißhaarige Männer in grauen Anglerwesten, die bei ALDI genau dann ihre drei Scheiben Brot kaufen, wenn Berufstätige wie ich von der Arbeit kommen. Die im Flieger alle aufhalten, weil sie mit ihren Rollatoren
als Erste aussteigen müssen. Die morgens gutgelaunt in mein ICE-Abteil einfallen und auf dem Weg in die Kur schon den ersten Piccolo köpfen, während ich versuche, meine Arbeit zu erledigen, mit der ich diese fidelen Transferleistungsempfänger finanziere. Ein Opa ist jemand, der sein Leben gelebt hat. Einer, der auf den Tod wartet. Ein alter Mann. Aber Nina wurde nicht müde, mich Opa zu nennen. Sie nannte mich schon so, als die Zwillinge noch gar nicht auf der Welt waren, sondern nur als Ultraschallfoto auf ihrem iPhone existierten.
    Hey, ich bin letztes Jahr den Berlin-Marathon unter vier Stunden gelaufen – 3 Stunden, 59 Minuten und 20 Sekunden, um genau zu sein. Meine Studenten finden, dass ich eine »coole Sau« bin. Haben sie jedenfalls gesagt, als ich ihnen ihre Bachelor-Zeugnisse überreicht habe. Dorata behauptet, ich sähe aus wie George Clooney. Und selbst meine kritische Ehefrau sagt, ich hätte mich gut gehalten – zumindest war sie dieser Meinung, bis die Sache mit Dorata aufflog. Da meinte sie plötzlich, ich hätte wohl ein Problem mit dem Alter, wenn ich es nötig hätte, mir Bestätigung bei einer Frau zu holen, die meine Tochter sein könnte.
    Verkehrte Welt: Während ich vor dem Alter davonlief, konnte Nina nicht schnell genug erwachsen werden. Sie ist erst 24, ein Alter, in dem ich noch in einer WG mit Durchgangszimmer lebte, nur um mich älter zu machen, als ich tatsächlich bin. So wie manche Leute den Tachometer manipulieren, damit weniger Kilometer drauf stehen, als der Motor gelaufen ist. Nur ist es bei mir umgekehrt. Warum macht Nina das? Weil sie unser Erwachsensein verachtet?
    Wir haben zwar geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt, wobei das
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