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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Autoren: Sylvester Walch
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tritt deutlicher in den Hintergrund. Dadurch kann das Ich flexibler reagieren und das eigene Wollen zugunsten des größeren Ganzen zurückstellen. Die täglichen Übungen schaffen ein stabiles Gefäß, in dem die Energie und Unbegrenztheit von Seinsfühlungen (vgl. Dürckheim, 1992) erst gehalten werden kann. Darüber hinaus stärken sie die Seele, schwächen existenzielle Ängste und verleihen den gewonnenen Einsichten Dauer. Die in den einzelnen Kapiteln vorgeschlagenen themenzentrierten Kontemplationen fördern in diesem Sinne Klärung, Reinigung und Öffnung. Sie helfen, das Ego zu transformieren, dem Selbst näherzukommen, Aufgaben zu erkennen und das Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte zu optimieren.
    Um aber auch noch die schon lange gewohnten und eingemusterten Konzepte, die im Kausalitätsdenken und in den Bedingtheiten der linearen Zeit verhaftet sind, aufzubrechen, findet sich in den unterschiedlichen spirituellen Richtungen eine Vielzahl von praktikablen Übungen. Im Mittelpunkt stehen dabei Anleitungen zur Beruhigung der Gedankenwelt, um zur inneren Mitte zu kommen und Präsenz und Klarheit im Bewusstseinsstrom zu schaffen. Häufig wird zur Weitung psychospiritueller Räume auch die Konzentration auf den Atem empfohlen. Auch wenn man sich einer bestimmten Tradition anschließt, sollte die spirituelle Praxis aber nicht einfach nur äußeren Regeln folgen, sondern kann durchaus den individuellen Erfordernissen angepasst werden. Dabei ist zu beachten, dass Fortschritte nur durch konstante Regelmäßigkeit zu erzielen sind und Einmaleffekte relativ schnell verpuffen. Wer sich vornimmt, täglich von 3.00 bis 5.00 Uhr morgens zu meditieren, wird gewöhnlich nach kurzer Zeit scheitern. Eine verbindliche Praxis ist nur dann durchführbar, wenn sie sorgfältig geplant und realistisch in den Alltag integriert werden kann.
    Wenn man stetig dabeibleibt, auch wenn man sich zwischendurch überwinden muss, können die Übungen zu einer unermesslichen Ressource werden. Dies gilt ganz besonders für Zeiten, in denen sich Zweifel in den Weg stellen oder die Begeisterung abflaut. Solche Momente gibt es in jeder Praxis, und erfahrungsgemäß lohnt sich die Mühe, denn neben der direkten Wirkung der Übungen wird gleichzeitig eine wichtige Hürde genommen. Die Überwindung von Lustlosigkeit bricht nämlich Widerstände auf, denen meistens eine Ego-Verstrickung zugrunde liegt. Wenn wir beispielsweise mit jemandem im Streit sind, eigensüchtigen Wünschen nachhängen oder mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, dann werden dem inneren Weg Energien entzogen. Das schwächt die spirituelle Motivation, was nicht selten zu einer längeren Unterbrechung der Übungen führt. Das ist nicht ungewöhnlich, deshalb sollte man jederzeit damit rechnen. In solchen Situationen ist es hilfreich, Inventur zu machen und mit sich achtsam umzugehen. Wenn man sich nicht verurteilt und genau herausfindet, weshalb man vom Weg abgekommen ist, ist das ein wichtiger Schritt, der zu mehr Freiheit und wertvollen Einsichten führt. Jeder Suchende kann an jedem neuen Tag zum All-Einen zurückkehren und die Übungen wiederaufnehmen. Außerdem wird man angesichts der eigenen Fehlschläge bescheidener und demütiger. Es wird auch unmissverständlich klar, dass man nur dann wirklich vorankommt, wenn man engagiert und ausdauernd zu Werke geht. Es gleicht dem Erlernen eines Handwerks, das nur dann bis zur Meisterschaft gebracht werden kann, wenn der Lehrling die Handgriffe so einübt, dass er sie im Schlaf beherrscht. Der spirituelle Fortschritt hängt wesentlich vom Engagement und Bemühen des Schülers ab, denn, so Gurumayi (1996, S.45), eine geistige Lehrmeisterin unserer Tage:
    »Immer wieder zeigt sich ganz klar, dass Gnade im Bemühen liegt. Wenn du dich nicht bemühst, hast du nicht einmal die Kraft, Gnade anzunehmen. Wenn du möchtest, dass dir ohne deine Mitwirkung Gutes geschieht, dann sei auch bereit, dich wieder davon zu trennen, denn es wird nicht von Dauer sein.«
    Das Ineinander von eigener Bemühung und Gnadenerfahrung setzt erst jenen Kreislauf in Gang, der der geistlichen Praxis Beständigkeit verleiht. Disziplin ist eine unabdingbare Voraussetzung für den spirituellen Weg. Wer aus bestimmten Gründen seine Ziele immer wieder aufgibt, sollte klären, welche Hindernisse dem entgegenstehen. Disziplin ist normalerweise ein Begriff, auf den mit Aversion reagiert wird. Oftmals werden Assoziationen von Unterdrückung oder Disziplinierung,
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