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Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes

Titel: Vom Ego zum Selbst: Grundlinien eines spirituellen Menschenbildes
Autoren: Sylvester Walch
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heraus wir selber existieren.
    In dem Metta-Sutta (Reuter 2007, S.17), einem zentralen Text des Theravada-Buddhismus, heißt dieses voraussetzungslose Mitgefühl das »Weilen im Heiligen« und wird mit der Erfahrung frühkindlicher Geborgenheit verbunden:
    »Wie eine Mutter mit ihrem Leben ihr einziges Kind beschützt und behütet, so möge man für alle Wesen und die ganze Welt ein unbegrenzt gütiges Gemüt entwickeln, ohne Hass, ohne Feindschaft, ohne Begrenzung.«
    Niemand kann eine angemessene Beziehung zu seinem spirituellen Wesensgrund entwickeln, wenn darin nicht auch das Verhältnis zum Mitmenschen miteinbezogen ist.
    Erich Fromm (1977, S.70) hat diesen umfassenden Anspruch von Liebesfähigkeit vor dem Hintergrund der schrecklichen historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts formuliert:
    »Nächstenliebe ist Liebe zu allen menschlichen Wesen; charakteristisch für sie ist das Fehlen der Ausschließlichkeit. Wenn ich die Fähigkeit des Liebens entwickelt habe, kann ich nicht umhin, meinen Nächsten zu lieben. In der Nächstenliebe liegt das Erlebnis der Vereinigung mit allen Menschen, das Erlebnis der menschlichen Solidarität und der menschlichen Einheit.«
    Zwischen Ich und Du wird die Wesenseinheit zur erfahrbaren Wirklichkeit. Das »tat tvam asi« bezeichnet in den Upanischaden (vgl. 1985) die höchste Stufe der menschlichen Erkenntnis: »Dieses da bist du.« Es ist die Einsicht in die Wesensidentität, durch die wir alle miteinander verbunden und vernetzt sind auf die Weise, dass nichts mehr für sich allein Bestand haben kann. Liebe in dieser umfassenden Sichtweise zielt auf die Vereinigung von Individualität und Universalität. Darin eben besteht ihre spirituelle Qualität, dass sie sich nicht ausschließend, sondern jeden Menschen, jedes Lebewesen, ja den Kosmos im Ganzen einbeziehend versteht. Es gibt keinen anderen Weg zur Liebe als die Liebe und keine Liebesfähigkeit ohne Liebeserfahrung. Um sich entfalten zu können, ist sie zunächst immer auf das Du verwiesen. Erst über das Du kommt sie zum Sein. Im Erfahren der Liebe allein offenbart sich dem Menschen ihr Wesen, Urgrund des Lebens und des Kosmos zu sein.
    Die größte spirituelle Praxis ist die, welche die Liebe zum Mittelpunkt macht. Wenn die Aktivitäten des Lebens von der Liebe berührt werden, werden sie von der Gnade des universalen Selbst durchtränkt sein.

    Eine nachhaltige psychospirituelle Transformation muss sich im Alltag auswirken, denn wer die Spiritualität benutzt, um aus der Welt zu fliehen, wird nicht zu sich selbst finden. Durch das Leben mit seinen vielfältigen Erfahrungsaspekten erweitern wir unsere Identität, denn es konfrontiert uns damit, in welcher Weise Denken und Handeln nicht übereinstimmen. Erst wenn Selbstgewahrsein, Achtsamkeit und Mitgefühl die Mitmenschen erreicht, kann man von einer gelebten und integrierten Spiritualität sprechen. Ein unbestechliches Indiz für den spirituellen Fortschritt ist die Art und Weise, wie man lebt und mit anderen und der Umwelt umgeht. Spirituelle Einstellungen müssen im Handeln sichtbar werden, sonst besteht die Gefahr, sich überheblich, fassadenhaft und abgehoben zu verhalten. Leicht bildet sich dann ein spirituelles Ego. Dem möchte die Übungspraxis entgegenwirken. Sie hilft auch, die Diskrepanz zwischen dem, was in der Tiefe des Selbst erlebt wird, und dem, wie das gewöhnliche Leben abläuft, zu überwinden. Eine tiefe Einheitserfahrung, die von beispielslosen Glücksgefühlen begleitet wird, gilt erst dann als integriert, wenn sie auch eine Einstellungsveränderung nach sich zieht, die positive Spuren in der Welt hinterlässt. Die unermessliche Liebe, die man in seinem Inneren entdeckt, muss allmählich über die Grenzen des persönlichen Binnenraums hinausstrahlen und sich im bedingungslosen Mitgefühl zu allen Lebewesen konkretisieren. Gelebte Spiritualität zeigt sich nicht in der Häufigkeit von außergewöhnlichen Zuständen, sondern im achtsamen Umgang mit sich, anderen Menschen und der Welt. Das ist aber nur durch eine stetige Transformation der Persönlichkeit möglich. Erst wenn regelmäßige Bewusstseinsprozesse und spirituelle Übungen die Innenräume weiten, können transzendente Erfahrungen nutzbringend assimiliert und stabilisiert werden. Sie schaffen Spielräume in den lebensweltlichen Bezügen, aber keine Distanz zur Welt.
    Durch den kontinuierlichen Umbau der psychospirituellen Strukturen gewinnt das universale Selbst mehr Einfluss, und das Ego
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