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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition)
Autoren: Neal Shusterman
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entspannt, als wäre das hier heute nichts Besonderes für sie.
    Die Frau links vom Direktor stellt sich als Sozialarbeiterin vor, die mit Risas »Fall« betraut ist. Bis zu diesem Augenblick wusste Risa nicht, dass sie ein »Fall« ist. Der Name der Frau dringt gar nicht erst bis in Risas Bewusstsein vor. Sie blättert so beiläufig in der Akte über Risas fünfzehnjähriges Leben wie in einer Tageszeitung.
    »Also … du bist von Geburt an ein Mündel des Staates. Das sagt ja schon dein Nachname ›Ward‹. Dein Verhalten war vorbildlich. Deine Noten waren ordentlich, aber nicht ausgezeichnet.« Die Sozialarbeiterin schaut auf und lächelt. »Ich habe deinen Auftritt neulich gesehen. Du warst sehr gut.«
    Gut, denkt Risa, aber nicht ausgezeichnet.
    Sie blättert noch ein paar Sekunden lang in dem Ordner, aber Risa ist klar, dass sie eigentlich nicht liest. Was immer hier vor sich geht, war lange entschieden, bevor Risa den Raum betreten hat.
    »Warum bin ich hier?«
    Die Sozialarbeiterin klappt den Ordner zu und schaut nacheinander den Direktor und den Mann in dem teuren Anzug neben ihm an. Der Anzug nickt, und die Sozialarbeiterin wendet sich mit einem freundlichen Lächeln wieder an Risa. »Meinem Eindruck nach sind deine Möglichkeiten hier ausgeschöpft«, sagt sie. »Direktor Thomas und Mr. Paulson sind ebenfalls dieser Meinung.«
    Risa wirft dem Anzug einen Blick zu. »Wer ist Mr. Paulson?«
    Der Anzug räuspert sich und sagt fast entschuldigend: »Ich bin der Rechtsbeistand der Schule.«
    »Ein Rechtsanwalt? Warum ist ein Rechtsanwalt hier?«
    »Das ist Vorschrift«, erklärt Direktor Thomas. Er ruckelt an seinem Kragen, als ob sich seine Krawatte auf einmal in eine Schlinge verwandelt hätte. »An unserer Einrichtung erfordern diese Vorgänge grundsätzlich die Anwesenheit eines Anwalts.«
    »Und was ist das hier für ein Vorgang?«
    Die drei schauen sich an, aber keiner möchte als Erster antworten. Schließlich ergreift wieder die Sozialarbeiterin das Wort. »Weißt du, Plätze in staatlichen Waisenhäusern sind heutzutage sehr knapp, und von den Haushaltskürzungen sind wir alle betroffen.«
    Risa schaut sie aus kalten Augen an: »Mündeln des Staates ist ein Platz in einem staatlichen Waisenhaus garantiert.«
    »Das ist korrekt, aber die Garantie gilt nur, bis sie das Alter von dreizehn Jahren erreicht haben.«
    Dann reden auf einmal alle gleichzeitig:
    »Das Geld reicht nicht länger«, sagt der Direktor.
    »Die Bildungsstandards sind gefährdet«, sagt der Anwalt.
    »Wir wollen nur das Beste für dich und all die anderen Kinder hier«, sagt die Sozialarbeiterin.
    Und so geht es hin und her wie bei einem Pingpongspiel mit drei Spielern. Risa sagt nichts, sondern hört nur zu.
    »Du bist eine gute Musikerin, aber …«
    »Wie ich bereits sagte, deine Möglichkeiten hier sind ausgeschöpft.«
    »Mehr kannst du hier nicht erreichen.«
    »Wenn du vielleicht ein weniger umkämpftes Hauptfach gewählt hättest …«
    »Nun, das ist alles Schnee von gestern.«
    »Uns sind die Hände gebunden.«
    »Täglich kommen unerwünschte Babys zur Welt, und nicht alle werden gestorcht.«
    »Wir sind verpflichtet, diese Babys aufzunehmen.«
    »Wir müssen Raum schaffen für neue Mündel.«
    »Also müssen wir die Zahl der Bewohner, die das Teenageralter erreicht haben, um fünf Prozent reduzieren.«
    »Das verstehst du doch, oder?«
    Risa will ihnen nicht länger zuhören, deshalb bringt sie die Erwachsenen zum Schweigen und spricht aus, was sie nicht wagen: »Ich soll umgewandelt werden?«
    Stille. Das ist eindeutiger als jedes »Ja«.
    Die Sozialarbeiterin greift über den Schreibtisch nach Risas Hand, aber Risa zieht die Hand zurück, bevor sie sie zu fassen bekommt. »Es ist schon in Ordnung, dass du Angst hast. Veränderung ist immer beängstigend.«
    »Veränderung?«, schreit Risa auf. »Was meinen Sie mit ›Veränderung‹? Sterben ist ein bisschen mehr als Veränderung .«
    Die Krawatte des Direktors verwandelt sich wieder in eine alles Blut abschnürende Schlinge. Der Anwalt öffnet seine Aktentasche. »Bitte, Miss Ward. Sie werden nicht sterben, und uns allen hier wäre bedeutend wohler, wenn Sie sich nicht so unangebracht übertrieben ausdrückten. Sie werden zu einhundert Prozent weiterhin am Leben sein, nur eben in einzelnen Teilen.« Dann greift er in seine Aktentasche und reicht ihr einen bunten Flyer. »Das ist eine Broschüre vom Ernte-Camp ›Zwei Seen‹.«
    »Es ist wunderschön dort«, sagt der
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