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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition)
Autoren: Neal Shusterman
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einen abseilen, und dann geht’s los.« Er schließt die Tür, und seine Schritte entfernen sich in Richtung Toiletten. Endlich lässt Connors Anspannung nach, und er spürt seine Erschöpfung. Der Lastwagenfahrer hat ihm kein Ziel genannt, nur eine Richtung, aber das ist okay. Norden, Süden, Osten, Westen – völlig egal, nur weg von hier. Und dann? Nun, erst muss Connor diesen Schritt zu Ende bringen, bevor er darüber nachdenkt, was danach kommt.
    Eine Minute später ist Connor schon dabei, einzudösen, als er jemanden laut rufen hört: »Wir wissen, dass du da drin bist! Komm sofort raus, dann passiert dir nichts!«
    Connor gerät in Panik. Josias Aldridge hat offenbar noch einen Taschenspielertrick auf Lager – er hat Connor für die Polizei sichtbar gemacht – Abrakadabra! Seine Reise ist vorbei, bevor sie überhaupt begonnen hat. Connor schiebt die Tür auf und sieht drei JuPos mit erhobenen Waffen.
    Aber sie zielen nicht auf ihn.
    Sie stehen sogar mit dem Rücken zu ihm.
    Gegenüber geht die Tür des Sattelschleppers auf, unter dem Connor sich nur wenige Minuten zuvor versteckt hatte, und hinter dem leeren Fahrersitz kommt mit erhobenen Händen ein Junge hervor. Connor erkennt ihn sofort. Andy Jameson geht auf dieselbe Schule wie er.
    Oh Gott, soll Andy etwa auch umgewandelt werden?
    In Andys Gesicht steht die Angst geschrieben, aber darunter verbirgt sich etwas noch viel Schlimmeres: absolute Verzweiflung. In diesem Augenblick bemerkt Connor, wie dämlich er sich verhält. Vor lauter Überraschung darüber, was hier gerade passiert, steht er wie festgenagelt in der Tür der Schlafkabine, vollkommen ungeschützt und für alle sichtbar. Die Polizisten sehen ihn natürlich nicht. Andy schon. Er erkennt Connor, hält seinen Blick nur einen Moment lang fest … und in diesem Moment geschieht etwas Bemerkenswertes.
    Die Verzweiflung auf Andys Gesicht weicht einer eisernen Entschlossenheit, die fast an Triumph grenzt. Er schaut rasch in eine andere Richtung und läuft ein paar Schritte – weg von Connor, damit die Polizisten ihm weiterhin den Rücken zukehren.
    Andy hat ihn gesehen, aber er hat ihn nicht verraten! Wenn Andy nach diesem Tag nichts mehr zu erwarten hat, dann bleibt ihm doch wenigstens dieser kleine Sieg.
    Connor lehnt sich zurück in die Dunkelheit des Lastwagens und zieht langsam die Tür zu. Während die Polizisten Andy abführen, legt sich Connor wieder hin, und seine Tränen kommen so plötzlich wie ein sommerlicher Schauer. Er weiß nicht genau, um wen er weint – um Andy, um sich selbst, um Ariana –, und das lässt die Tränen nur noch heftiger fließen. Statt sie wegzuwischen, lässt er sie einfach laufen wie früher als kleiner Junge, als die Dinge, über die er weinte, unbedeutend und am nächsten Morgen wieder vergessen waren.
    Der Lastwagenfahrer schaut nicht zu ihm herein. Connor hört nur, wie der Motor anspringt, und spürt, wie der Lastwagen anrollt. Das sanfte Schaukeln wiegt ihn in den Schlaf.
    Das Klingeln seines Handys reißt Connor aus seinen Träumen. Er wehrt sich dagegen aufzuwachen. Er möchte weiterträumen, von einem Ort, an dem er sicher schon einmal gewesen ist, auch wenn er sich nicht genau erinnert, wann. Er weiß nur noch, dass es vor der Geburt seines Bruders gewesen sein muss.
    Er war zusammen mit seinen Eltern in einer Hütte am Strand. Auf der Veranda brach er mit dem Fuß durch ein morsches Brett und landete in dicken Spinnweben, die sich wie Baumwolle anfühlten. Vor Schmerz, aber auch aus Angst vor den gigantischen Spinnen, die ganz bestimmt seinen Fuß abfressen würden, schrie er wie am Spieß. Und doch war das ein guter Traum, eine gute Erinnerung, denn sein Vater war da, um ihn zu befreien. Er trug ihn hinein, verband sein Bein und setzte ihn neben den Kamin. Dann gab er ihm Apfelsaft, der so lecker war, dass er den Geschmack beim bloßen Gedanken daran heute noch auf der Zunge hat. Sein Vater erzählte ihm eine Geschichte, an die er sich nicht mehr erinnert, aber das ist in Ordnung. Nicht die Geschichte war wichtig, sondern der Klang seiner Stimme, ein weicher, grummelnder Bariton, der so beruhigend wirkte wie Wellen, die an eine Küste rollen. Der kleine Connor trank seinen Apfelsaft und tat dann, an seine Mutter gelehnt, so, als wäre er eingeschlafen. In Wahrheit ging er in diesem Augenblick auf, versuchte ihn für immer festzuhalten. Im Traum war ihm das gelungen. Sein ganzes Sein floss in das Saftglas, und seine Eltern stellten es
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