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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition)
Autoren: Neal Shusterman
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wo die Streifenwagen gerade sind, aber das ist egal. Er hat sich für diesen Weg entschieden, also muss er ihn bis zum Ende gehen. Kurz bevor er die Tür erreicht, sieht er Scheinwerfer, die einen Bogen beschreiben und ihn gleich erfassen werden. Er packt den Haltegriff, hievt sich hinein und zieht die Tür hinter sich zu.
    Auf der schmalen Liege ringt er nach Atem. Was soll er als Nächstes tun? Der Fahrer wird zurückkommen. Connor hat ungefähr fünf Minuten, wenn er Glück hat, eine, wenn nicht. Er späht unter das Bett. Platz genug, um sich zu verstecken, aber dort liegen zwei Reisetaschen. Er könnte sie vorziehen, sich hineinzwängen und dann die Taschen wieder an ihren Platz zerren. Der Lastwagenfahrer würde ihn niemals bemerken. Doch bevor er die erste Tasche unter der Liege hervorziehen kann, geht die Tür auf. Connor erstarrt, unfähig zu reagieren, als der Fahrer ihn am Revers seiner Jacke packt.
    »Hoppla! Wen haben wir denn da? Was zum Teufel hast du in meinem Laster zu suchen?«
    Hinter ihm fährt langsam ein Streifenwagen der Polizei vorbei.
    »Bitte«, sagt Connor, und seine Stimme ist auf einmal ganz piepsig, wie vor dem Stimmbruch. »Bitte verraten Sie mich nicht. Ich muss hier weg.« Er greift nach seinem Rucksack, fasst tastend hinein und zieht ein Bündel Scheine aus seinem Portemonnaie. »Möchten Sie Geld? Ich habe Geld. Ich gebe Ihnen alles, was ich habe.«
    »Ich will dein Geld nicht«, sagt der Lastwagenfahrer.
    »Okay, was dann?«
    Selbst in dem schummrigen Licht muss der Lastwagenfahrer die panische Angst in Connors Augen sehen, aber er sagt nichts.
    »Bitte«, wiederholt Connor. »Ich tu alles, was Sie wollen …«
    Der Lastwagenfahrer schaut ihn noch einen Moment lang schweigend an. »Tatsächlich?«, sagt er endlich. Dann kommt er herein und zieht die Tür hinter sich zu.
    Connor schließt die Augen und wagt nicht, darüber nachzudenken, was er sich gerade eingebrockt hat.
    Der Lastwagenfahrer setzt sich neben ihn. »Wie heißt du?«
    »Connor.« Zu spät fällt ihm ein, dass er einen falschen Namen hätte sagen sollen.
    Der Lastwagenfahrer kratzt sich die Bartstoppeln und denkt einen Augenblick nach. »Ich will dir was zeigen, Connor.« Er greift über ihn hinweg und zieht zu Connors Erstaunen ein Kartenspiel aus einem kleinen Beutel, der neben dem Bett hängt. »Hast du so was schon mal gesehen?« Der Lastwagenfahrer nimmt die Karten und mischt sie geschickt mit einer Hand. »Ziemlich gut, was?«
    Connor weiß nicht, was er sagen soll, und nickt einfach.
    »Wie wär’s damit?« Der Lastwagenfahrer nimmt eine einzelne Karte und lässt sie verschwinden. Dann greift er in die Brusttasche von Connors Hemd und zieht die Karte hervor. »Gefällt dir das?«
    Connor stößt ein nervöses Lachen aus.
    »Weißt du, die Sache ist … ich beherrsche die Tricks eigentlich nicht.«
    »Wie … wie meinen Sie das?«
    Der Lastwagenfahrer krempelt den Ärmel hoch: Der Arm, mit dem er die Kartentricks vorgeführt hat, wurde am Ellbogen transplantiert.
    »Vor zehn Jahren bin ich am Steuer eingeschlafen«, erzählt er. »Schwerer Unfall. Hab einen Arm, eine Niere und noch so manch anderes verloren. Aber ich hab alles neu bekommen und überlebt.« Er betrachtet seine Hände, und Connor erkennt, dass die Kartenspielerhand ein bisschen anders aussieht. Die Finger sind dünner, die Haut ein wenig heller.
    »Ach so«, sagt Connor. »Sie haben eine neue Hand gewonnen.«
    Der Lastwagenfahrer lacht, dann schweigt er einen Augenblick und betrachtet seine Ersatzhand. »Diese Finger hier können Dinge, die der Rest von mir nicht kann. Muskelgedächtnis nennt man das. Und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke, was für unglaubliche Dinge der Typ konnte, dem dieser Arm gehörte, bevor er umgewandelt wurde … Wer immer er war.«
    Der Lastwagenfahrer steht auf. »Zum Glück bist du an mich geraten«, sagt er. »Da draußen gibt es Trucker, die würden alles nehmen, was du ihnen anbietest, und dich trotzdem ausliefern.«
    »Und Sie sind nicht so?«
    »Nein, bin ich nicht.« Er streckt die Hand aus – die andere Hand –, und Connor ergreift sie. »Josias Aldridge«, stellt er sich vor. »Ich fahre Richtung Norden. Du kannst bis zum Morgen mitfahren.«
    Vor lauter Erleichterung ist Connor wie gelähmt. Nicht einmal ein »Danke« bringt er heraus.
    »Das Bett ist zwar nicht das bequemste der Welt«, fährt Aldridge fort, »aber es erfüllt seinen Zweck. Ruh dich ein bisschen aus. Ich muss kurz noch
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