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Vollendet (German Edition)

Vollendet (German Edition)

Titel: Vollendet (German Edition)
Autoren: Neal Shusterman
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Klavier setzen darf.
    Sie könnte die Sonate im Schlaf spielen, das weiß sie, und oft tut sie es auch. In vielen Nächten wacht sie auf, weil ihre Finger auf der Bettdecke spielen. Sie hört in ihrem Kopf die Musik, sogar noch einen Moment nach dem Aufwachen, bis sie wieder in der Nacht verschwindet. Nur die auf die Decke trommelnden Finger bleiben.
    Sie muss die Sonate spielen können. Sie muss ihr so leichtfallen wie das Atmen.
    »Das ist kein Wettbewerb«, erzählt Mr. Durkin ihr immer. »Bei einem Konzert gibt es weder Sieger noch Verlierer.«
    Aber Risa weiß es besser.
    »Risa Ward«, ruft der Inspizient. »Du bist dran.«
    Sie lässt die Schultern kreisen, rückt die Spange in ihren langen braunen Haaren zurecht und tritt auf die Bühne. Der Applaus des Publikums ist höflich, nicht mehr. Zum Teil ehrlich, denn sie hat Freunde dort draußen und Lehrer, die ihr Erfolg wünschen. Aber überwiegend ist es der Applaus eines Publikums, das beeindruckt werden möchte.
    Auch Mr. Durkin sitzt dort unten. Seit fünf Jahren ist er ihr Klavierlehrer – und gleichzeitig eine Art Ersatzvater. Sie hat Glück. Nicht jeder im Staatlichen Waisenhaus Nummer 23 in Ohio hat einen Lehrer, von dem er das sagen könnte. Die meisten Waisenhaus-Kids hassen ihre Lehrer, weil sie in ihnen eher Gefängniswärter sehen.
    Risa versucht ihr steifes Konzertkleid zu vergessen und setzt sich ans Klavier, einen Steinway-Flügel – schwarz wie die Nacht und ebenso lang.
    Konzentrier dich.
    Sie richtet den Blick auf den Flügel und zwingt so das Publikum ins Dunkle zurück. Jetzt zählen nur das Instrument und die wunderbaren Töne, die sie ihm entlocken wird.
    Einen Augenblick lang lässt sie ihre Finger über den Tasten schweben, dann beginnt sie mit genau dem richtigen Maß an Leidenschaft. Bald tanzen ihre Finger nahezu mühelos, alles scheint so einfach. Sie lässt das Instrument singen … Aber dann rutscht ihr linker Ringfinger unglücklich von einem B ab und landet auf dem H.
    Ein Fehler.
    Er passiert so rasch, dass er unbemerkt bleiben könnte – aber nicht von Risa. Sie hält im Kopf an dem falschen Ton fest, und obwohl sie weiterspielt, klingt er in ihr nach, schwillt immer lauter an und raubt ihr die Konzentration, bis sie wieder eine falsche Taste trifft und dann, zwei Minuten später, einen ganzen Akkord verhaut. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, die ihr die Sicht nehmen.
    Du musst nicht sehen können, redet sie sich ein. Du musst nur die Musik spüren. Sie kann diese Bruchlandung noch abwenden, oder? Die Fehler, die in ihren Ohren so schrecklich klingen, sind kaum zu bemerken.
    »Ganz ruhig«, würde Mr. Durkin sagen. »Niemand beurteilt dich.«
    Vielleicht glaubt er das wirklich – andererseits kann er es sich leisten, das zu glauben. Er ist nicht fünfzehn Jahre alt, und er war niemals ein Mündel des Staates.
    Fünf Fehler.
    Jeder einzelne ist unbedeutend, kaum zu bemerken, aber trotzdem ein Fehler. Es wäre in Ordnung gewesen, wenn die Auftritte der anderen mittelprächtig gelaufen wären, aber sie hatten brilliert.
    Dennoch strahlt Mr. Durkin übers ganze Gesicht, als er Risa beim Empfang begrüßt. »Du warst wunderbar! Ich bin stolz auf dich.«
    »Ich hab’s verbockt.«
    »Unsinn. Du hast eines der schwersten Stücke von Chopin gewählt. Nicht einmal Profis kommen da ohne ein, zwei Fehler durch. Du bist dem Stück gerecht geworden!«
    »Das reicht mir nicht.«
    Mr. Durkin seufzt, aber er widerspricht nicht. »Du entwickelst dich gut. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich diese Hände in der Carnegie Hall spielen sehe.« Sein Lächeln ist warm und ehrlich, wie die Glückwünsche der anderen Mädchen. Ihre Wärme lässt sie in dieser Nacht entspannt schlafen und gibt ihr Hoffnung, dass sie der Sache vielleicht, ganz vielleicht, doch zu viel Bedeutung beimisst und unnötig streng mit sich ist. Beim Einschlafen überlegt sie, was sie als Nächstes spielen könnte.
    Eine Woche später wird sie ins Büro des Direktors gerufen.
    Drei Personen erwarten sie. Ein Tribunal , denkt Risa. Die drei Erwachsenen sitzen zu Gericht wie die drei Affen: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.
    »Setz dich bitte, Risa«, sagt der Direktor.
    Sie will anmutig Platz nehmen, aber ihre weichen Knie knicken unter ihr ein und sie plumpst ungeschickt auf einen Stuhl, der für ein Verhör viel zu plüschig ist.
    Risa kennt die beiden Personen neben dem Direktor nicht, aber sie sehen sehr offiziell aus. Gleichzeitig wirken sie
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