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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei
Autoren: Julianne Lee
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ausziehst, wenn du kannst.«
    Wieder musste er lange auf eine Antwort warten. Schließlich sagte sie: »Na gut, aber ich glaube nicht, dass ich je die Möglichkeit dazu bekommen werde.«
    »Man kann nie wissen. Manche Dinge sind vom Schicksal vorherbestimmt und treten ganz überraschend ein.«
    Sie seufzte ergeben. »Gut, Dylan, ich verspreche es.« Dylan wusste, dass sie dieses Versprechen nur gab, um ihn von dem leidigen Thema abzulenken, aber er wusste auch, sie würde sich daran erinnern, wenn sie das Studio und die Wohnung erbte.
    »Nur eines noch.« Er merkte selbst, dass seine Worte nach einem endgültigen Abschied klangen, aber er musste unbedingt noch loswerden, was er zu sagen hatte. »Weißt du noch, nach wem ich benannt worden bin?«
    »Bob Dylan?«
    Er kicherte. »Nein, Black Dylan Matheson, der schotti-sehe Straßenräuber, von dem Opa Matheson immer erzählt hat. Was weißt du über ihn? Wo kommt diese Geschichte her?«
    Mom dachte einen Moment nach, dann erwiderte sie: »Ich glaube ... ich glaube, sie stammt aus dem Zweiten Weltkrieg; dein Großvater war damals in England stationiert. Er erzählte, er habe dort einen RAF-Offizier getroffen, der denselben Namen trug wie er: James Matheson. Als sie sich näher kennen gelernt hatten, unterhielten sie sich oft über die Geschichte des Clans, und der andere James erzählte deinem Großvater von dem Straßenräuber im Familienstammbaum.«
    Dylans Pulsschlag beschleunigte sich. »War dieser Offizier ein direkter Nachkomme von ihm?«
    Sie zuckte mit den Achseln. »Tut mir Leid, das weiß ich nicht.«
    Er senkte den Kopf, um seine Enttäuschung zu verbergen. »Hast du denn jemals versucht, mehr über Black Dylan herauszufinden?«
    »Nein, warum denn?« Ihre Stimme verriet Verblüffung.
    »Vielleicht tust du's ja noch. Und such unter dem gälischen Namen. Dilean Dubh. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, du wirst einige Einzelheiten aus seinem Leben sehr interessant finden.«
    »Gut, das werde ich tun.«
    Als er sich von seiner Mutter verabschiedete, wusste er, dass es ein Abschied für immer war. Er umarmte sie, küsste sie auf die Wange und umarmte sie noch einmal. Erst dann brachte er es fertig, zur Tür hinauszugehen, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Während des Fluges nach England versuchte er zu schlafen, war aber innerlich so aufgewühlt, dass er kein Auge zutun konnte; erst im Zug von London nach Glasgow nickte er für eine Weile ein. Als er in Glasgow ausstieg, begann sein Herz zu rasen, und er musste mehrmals tief Luft holen.
    In etwas mehr als einem Tag hatte er über fünftausend Meilen zurückgelegt, und er wusste, dass es mit dieser bequemen Art zu reisen für ihn bald vorbei sein würde. Dann würde er auch nicht mehr schnell mit dem anderen Ende der Welt telefonieren oder im Kaufhaus einkaufen können und musste auf frisches Obst und moderne sanitäre Einrichtungen verzichten. Aber im Vergleich zu dem, was ihn erwartete, waren all diese Dinge unwichtig.
    In Glasgow mietete er sich ein Auto und setzte seine Reise Richtung Norden fort. Die Landschaft, die an ihm vorbeiflog, war ihm vertraut und auch wieder nicht. Die Berge hatten sich nicht verändert, die Täler und Moore dafür umso mehr. Einige Wälder waren verschwunden, andere an anderen Stellen entstanden. Die Straße, über die er fuhr, hatte zu seiner Zeit noch nicht einmal als Weg existiert. Sie führte durch eine Gegend, die er oft zu Fuß durchstreift hatte, ins Hochland empor.
    Als er sich Fort William näherte, beschlich ihn ein unbehagliches Gefühl. Er musste anhalten, um seine verkrampften Schulter- und Nackenmuskeln zu lockern. Seit seiner Flucht war er nicht mehr in diesem Teil Schottlands gewesen, und er konnte nicht verhindern, dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Obwohl sich die Stadt so sehr verändert hatte, dass er sie nicht mehr wiedererkannte, so erkannte er doch die umliegenden Berge und wusste, dass die Straße ihn direkt zum Fort brachte.
    Dann sah er die niedrigen, grasbedeckten Mauern zu seiner Linken und begriff, dass die Festung inzwischen abgerissen worden war und die Straße quer über die Stelle verlief, wo sie einst gestanden hatte. Fort William existierte nicht mehr. Das düstere Gemäuer, in dem er vor hunderten von Jahren beinahe sein Leben gelassen hätte, gehörte endgültig der Geschichte an. Nur noch zerfallene Überreste waren geblieben.
    Die Erkenntnis versetzte ihm einen regelrechten Schock. Er fuhr an der Ruine vorbei, hielt
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