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Vögelfrei

Titel: Vögelfrei
Autoren: Sophie Andresky
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großen Mietshaus. In der nächsten Zeit würde ich feststellen, dass beides öfter passierte: die kaputten Schuhe und das große Unglück. Sie hatte einen Tick für antike Mode, besonders für die der Zwanzigerjahre, kaufte Stoffe, Kleider und vor allem Schuhe auf Flohmärkten und Auktionen. Manche von diesen Dingen konnte sie restaurieren, andere waren schon so abgetragen, dass sie ihr buchstäblich am Körper wegstarben. Auf einer Party hielt ich einmal plötzlich einen Ärmel ihres Chiffonkleids in der Hand, nur weil ich sie im Gedränge kurz festgehalten hatte. Einmal wollte ich ihr in den Mantel helfen, und sie zerriss sich dabei den Rückeneinsatz ihrer Abendrobe. Aber am meisten enttäuschte es sie, wenn sie Charlestonschuhe entdeckt hatte, die auf den ersten Blick stabil und intakt wirkten und die ihr dann irgendwo auf der Straße im Gehen wegbrachen. Das nahm sie ihnen persönlich übel. Anfangs dachte ich, dass Hilde deshalb so dünn war und ich sie nie etwas lustvoll essen sah, weil sie ihr Gewicht für ihre kostbaren Pumps möglichst gering halten wollte.
    Hilde hockte also mit Leichenbittermiene auf diesen Treppenstufen. Es war schon etwas dämmrig, und als sie mich sah, fiel ihr glatt ihr kostbarer Schuh aus der Hand. Sie kam auf mich zu und hielt mich an den Schultern fest.
    »Vergessen wir den blöden Schuh. Kommen Sie, ich kümmere mich um Sie«, war das Erste, was sie zu mir sagte. Und das tat sie dann auch. Einen Arzt wollte ich nicht, aber Hilde fragte mich erst gar nicht, sondern
hakte mich unter und nahm mich mit in ihre Mansardenwohnung, die mit Stoffen, Kleidern und alten Möbeln vollgestopft war.
    Es sah weniger aus wie ein Museum, eher wie ein Lager. Hilde schob ihre Nähmaschine auf dem Küchentisch beiseite, drehte die tulpenförmige Lampe in meine Richtung und sah sich zuerst mein Gesicht an. Von der Schläfe bis zum Jochbein verlief eine große, blutige Schramme. Sie holte eine scharf riechende Flüssigkeit und Gaze aus einer Schublade, dazu eine Pinzette und fing an, die Wunde zu säubern. Ich zuckte mehrmals zusammen, und sie sagte jedes Mal sanft: »Schon gut, jetzt ist alles gut, ich bin ja bei Ihnen.« Schließlich tupfte sie Jod auf die Haut und wollte sich gerade daranmachen, meine blutigen Fingerknöchel zu desinfizieren, als sie bemerkte, dass Blut an meinem Arm herunterlief. Sie zog mir vorsichtig die Jacke aus, knöpfte meine Bluse auf und betrachtete meinen Oberarm. »Das ist eine Stichwunde«, sagte sie.
    Ich nickte, aber mehr würde ich ihr nicht erzählen. Ich konnte es ja selbst kaum fassen. Vor wenigen Stunden hatte mir die Liebe meines Lebens gestanden, dass er mich betrogen hatte, und jetzt war ich plötzlich allein und vogelfrei.
    »Sie müssen eine Tetanusspritze bekommen, und die Wunde muss genäht werden. Ich werde jemanden anrufen, der das kann.« Noch auf dem Weg zum Telefon fragte sie: »Auch die Polizei?«, und ließ die letzte Silbe zwischen uns stehen, bis ich den Kopf schüttelte.
    Sie versuchte nicht, mich zu überreden, und eine Viertelstunde später saß ein junger, schweigsamer Araber
mit Turban in der Küche vor mir, streifte sich Handschuhe über, setzte mir eine Spritze und nähte die Wunde. Hilde gab ihm Geld im Flur; ich hörte sie noch leise etwas sagen, aber da war ich schon so benommen, dass es mich nicht mehr wirklich interessierte. Ich habe sie auch später nie gefragt, wer das eigentlich war, und wieso er sich zu diesem doch etwas merkwürdigen Hausbesuch bereiterklärt hatte.
    Hilde packte mich in ein quietschendes Bett, das unter einer Dachschräge stand, unter ein so dickes Federbett, dass ich nur dann darüberblicken konnte, wenn ich es schaffte, den Kopf anzuheben. Als Krankenschwester war sie großartig. Am Nachmittag des nächsten Tages sah ich, dass sie meine Kleider gewaschen und geflickt hatte. Meine Bluse war am Ärmel zerrissen gewesen und mein Rock völlig mit Erde verkrustet - ordentlich gebügelt lagen sie über einem Stuhl, zusammen mit frischer Wäsche aus weißem Leinen und glänzenden langen Nylonstrümpfen mit Spitzenrand und Strapsgürtel.
    Daneben standen die Holzschatulle, die ich dabeigehabt hatte, und meine Handtasche. Das war alles, womit ich gekommen war.
    Zu dem Zeitpunkt dachte ich, Hilde sei vielleicht Kostümbildnerin, aber als sie mit einem Tablett hereinkam und mir einen Teller dampfenden Milchreis vorsetzte, erzählte sie mir, dass sie Kurse in einem Stadtteilzentrum gebe.
    »Von jeder Sorte Hilfe etwas«,
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