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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen
Autoren: Constanze Bohg
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vermessen? Ich habe dem Tod ins Auge gesehen, ich habe am Abgrund gestanden. Ich habe das Ende gespürt. Von jenem Zeitpunkt an wollte ich mit allen Sinnen leben, mit aller Intensität, und mit einem Anspruch: Meine Zeit hier auf Erden für das Richtige zu verwenden, egal, was Gesellschaft, Verwandte oder Freunde davon halten. Egal, ob es, wie der Headhunter sagte, schädlich für meinen Lebenslauf sei, diese Stelle abzulehnen. Wenn ich eines gelernt hatte durch den Burnout und Julius, dann war es das: Ich wollte ganz bei mir sein, ganz ich selbst sein. Mich nicht mehr verbiegen oder den Ansprüchen anderer gerecht werden.
    Untätig wollte ich trotzdem nicht sein. Also bewarb ich mich beim SkF für eine Familienpatenschaft, in der man sich einige Stunden pro Woche ehrenamtlich um eine Familie kümmert, die dankbar für Unterstützung ist. Ich hatte wohl mein »Januarhoch«, als ich die Bewerbung ausfüllte. Im Februar war die erste Schulung. Kurz nach Beginn merkte ich, dass ich noch lange nicht so weit war: Eine Frau brauchte nur einmal das Wort »Baby« zu sagen, und mir wurde heiß und kalt, weil mich eine weitere dunkle Welle erfasste und mir die Tränen in die Augen trieb. In der Pause sprach ich mit der Leiterin und entschuldigte mich für den Rest der Schulung mit der Anmerkung, dass es mir nicht gutgehe.
    Endlich daheim angekommen, merkte ich, dass ich mir zu früh zu viel zugemutet hatte. Ich schrieb eine E-Mail an den Verein, um meine Bewerbung zurückzuziehen, und erwähnte, dass ich mir diese Aufgabe zu früh zugetraut hatte. Sie zeigten sofort Verständnis und schrieben, dass sie sich ohnehin gewundert hatten, dass ich nur fünf Monate nach der Beerdigung schon wieder mit so etwas Intensivem anfangen wollte – und siehe da, wieder einmal hatte ich mir etwas auferlegt, was niemand von mir verlangt hatte!
    Solche Erlebnisse machten es mir nicht leichter. Das waren Tage, an denen ich abends nur dachte, dass ich wieder einen Tag hinter mich gebracht hatte, dass ich wieder einen Tag näher an der Ewigkeit dran war. Einen Tag näher an dem Tag, an dem ich meinen Sohn wiedersehen würde.
    Dann kam Tibors Geburtstag, und er fand auf dem Frühstückstisch nicht nur eine Karte von mir, sondern auch eine von Julius: »Du bist der beste Papa …« Natürlich saßen wir weinend am Frühstückstisch bei der Bescherung, aber anders ging es nicht. Anders kann es für uns nicht gehen. Wir weinten – aber wir waren glücklich dabei, weil wir wussten, dass wir unseren Sohn niemals vergessen würden, dass wir für uns alles richtig gemacht hatten, dass Julius das beste Erdenleben gehabt hatte, das wir ihm hatten bieten können.
    Die Hilfe, die ich anderen Frauen geben kann, konzentrierte ich fortan auf das Naheliegende, das Kleine: Wenn ich zum Beispiel auf dem Friedhof war und eine Mutter vor einem neu aufgeschütteten Grab weinen sah, ging ich hin und sprach sie vorsichtig an: »Mein Name ist Constanze, mein Sohn heißt Julius, du kannst mich immer anrufen, wenn du willst …«
    Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man in so einer Situation mit niemandem sprechen kann außer mit jemandem, der in derselben Lage ist. Ich weiß, dass dich dann keiner verstehen kann außer den anderen Mitgliedern des traurigsten Clubs der Welt.
    Ich bin schon seit September 2011 in einem US -amerikanischen Online-Forum für Sterneneltern aktiv, wo man sich oft mit den Worten »Ich wünschte, wir hätten uns nie kennengelernt« begrüßt. Das Schöne dort ist, dass sich keiner einen Ratschlag anmaßt. Im Internet erzählen die Menschen einfach, wie sie diese ätzenden Tage überstanden, die ersten Wochen, Monate, Jahre … Ratschläge kommen immer nur von den Menschen, die so etwas noch nie erlebt haben. Das passiert mir heute noch, dass ich von solchen Leuten gute Tipps bekomme, und es macht mich ehrlich gesagt immer noch rasend wütend, genauso wie standardisierte Zusprüche in der Art von »Er hat es doch gut im Himmel« oder »Du kannst nichts dafür, das war einfach eine Laune der Natur.« Auf solche Einwände reagiere ich meist weniger freundlich: »Glaubst du etwa, dass Julius es bei uns auf Erden nicht gut gehabt hätte?!« – »Julius ist keine Laune, sondern ein Mensch, und er ist auch nicht zufällig da gewesen, sondern weil es Gottes Entscheidung war.«
    So trennte Julius für uns auch die Spreu vom Weizen, was unseren Freundeskreis angeht: Manche Freunde, die wir letztes Jahr hatten, sind noch da, viele andere nicht
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