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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen
Autoren: Constanze Bohg
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trifft der Schlag: Sie waren beide ebenso wie ich Sternenmamas, hatten beide ihren kleinen Sohn in diesem Sommer begraben müssen und kamen beide aus Berlin. Wir standen verblüfft voreinander, bevor wir uns kurzerhand in die Arme fielen und hemmungslos weinten. Was für eine Fügung – die typische Teilnehmerin einer Mutterkur ist nicht die verwaiste Mutter, sondern die mit Kindern und Alltag, von dem sie eine Pause braucht. Für mich war das ein weiteres Wunder auf meiner Julius-Reise.
    Der besonderen Konstellation von gleich drei Sternenmüttern war es geschuldet, dass wir eine eigene Trauergruppe bekamen, einen geschützten Raum, in dem wir drei zusammen mit einer sehr behutsamen und einfühlsamen Trauerbegleiterin redeten, weinten, verarbeiteten. In einer Sitzung liefen wir einen »Trauerpfad« ab, entlang einer Acht, die auf den Boden gemalt war. Wir sollten die Wörter als Geste nachstellen, die an einzelnen Stationen auf Zettel geschrieben waren. Ich stand bei dem Wort »verzweifelt« und wusste erst nicht, was ich tun sollte. Dann kniete ich mich intuitiv nieder wie vor dem Grab von Julius und weinte einfach los, ohne das vorher überlegt zu haben. Die Therapeutin war in meiner Nähe, ließ mir aber den Freiraum, den ich in diesem Moment brauchte. Als ich mich ausgeweint hatte, legte sie ihren Arm um mich und fragte: »Was fühlen Sie jetzt?«
    »Angst«, sagte ich.
    »Und was sagt die Angst?«, fragte sie mich.
    »Dass bei der nächsten Schwangerschaft wieder etwas Schlimmes passiert.«
    »Und was sagen Sie der Angst?«
    Ich musste kurz überlegen: »Wir machen das trotzdem. Wir lassen uns nicht einschüchtern von der Angst. Wir werden trotzdem wieder schwanger.«
    »Welche Geste kommt dazu in Ihnen hoch?«
    Ich stellte mich hin und hielt meine Arme vor meinen Körper, die Hände zu Fäusten geballt. Ich wollte kämpfen. Wollte der Angst ins Gesicht boxen.
    Das war für mich ein Schlüsselmoment. Das Thema Folgeschwangerschaft nach einer so traumatischen Erfahrung ist in vielen Studien betrachtet worden – das Kind nach dem verstorbenen Kind. Darüber unterhielten wir uns im Allgäu, auch über die zukünftigen Geschwister von Julius, und über Tibors und meine Angst davor. Doch wie hatte mir eine amerikanische Freundin gesagt, als ich sie gefragt hatte, was ich denn tun sollte, wenn meine Angst nicht wegginge? »Then do it afraid!« – »Dann tue es halt ängstlich!«
    Durch die Therapie wurden auch die schlimmen Abende jeden Montag immer schwächer, nicht zuletzt auch durch die Klopfakupressur mit der Psychologin des Hauses und deren Hinweis, dass diese regelmäßig wiederkehrenden Zusammenbrüche physische Ursachen hätten: Der Körper speichert solche schmerzhaften Einschnitte, um sie dann in wiederkehrendem Rhythmus zu reproduzieren.
    An den langen Abenden las ich viel über Trauer und Verlust. Besonders ansprechend war für mich das Buch »An der Hoffnung festhalten« der Amerikanerin Nancy Guthrie. Nancy selbst hatte zwei ihrer drei Kinder trotz infauster Diagnose ausgetragen und beerdigt. Für mich war das eine aufbauende, wenn auch erschütternde Lektüre, in der die Autorin viel über ihre eigene Trauer geschrieben hatte, und auch über den Umgang als Trauernde mit anderen Menschen. Überhaupt war in der Zeit nach Julius’ Beerdigung alles über Trauer und verwaiste Eltern meine einzige Lektüre, neben der Bibel. Meinen Lieblingssatz in ihrem Buch musste ich sofort unterstreichen, weil er auch auf mich zutraf:
    Nicht, was die Menschen gesagt haben, hat uns den größten Schmerz bereitet, sondern, was sie nicht gesagt haben.
    Sehr gut half mir auch das Buch »Wenn Mütter trauern« von Ursula Goldmann-Posch. Durch sie wurde mir klar, dass ich zwar trauern durfte, solange ich wollte, dass ich mich aber trotzdem nicht auf Dauer in meiner Trauer-Festung verschanzen durfte:
    Nach einem solchen Tiefschlag fürchten Eltern, dass sie nun vogelfrei für das Schicksal geworden sind, dass jeder Tag und jede Stunde ein neues Unglück bringen kann. Es ist gut, wenn Sie sich in Ihrer Verletzbarkeit zunächst von allem fernhalten, was Sie noch mehr verwunden könnte. Ihre Festung darf jedoch nur eine Übergangseinrichtung sein. Wenn das Festungsdenken zur Lebensphilosophie gerät, zur »splendid isolation« auf einer Insel der Trauer, dann wird Ihr Leben zum Museum des Todes.
    Das Buch wirkte auf mich wie ein Sog. Ich unterstrich in den für mich wichtigen Absätzen sorgfältig Zeile für Zeile:
    Trauer
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