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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen
Autoren: Constanze Bohg
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mehr. Vor drei Jahren haben wir hundert Weihnachtskarten geschrieben, jetzt schreiben wir noch dreißig. Durch Julius haben wir aussortiert.
    Besser geht es mit all diesen Verlust-, Sternenkinder- und Julius-Gesprächen am Computer: Hier kann zwar niemand reden, aber jeder kann sich alles von der Seele schreiben. In dem amerikanischen Forum geht es oft um einfache Dinge, um Fragen wie: »Ich weiß nicht, was ich tragen soll beim Begräbnis meines Kindes?« Da schreiben dann zwanzig Leute dieses und jenes, weil sie selbst hinter einem Kindersarg gegangen sind. Aber keiner wollte schwarze Kleidung, keine wollte hässliche Kränze …
    Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, stehe ich manchmal auf, schleiche hinüber ins Wohnzimmer und gehe zu meinen »MISSters« – da das Forum » MISS « heißt, nennen sich die Sternenmamas untereinander nicht »sisters« sondern »MISSters«. Dank der Zeitverschiebung ist es dort dann erst Abend – wie angenehm für mich, auch noch um drei Uhr in der Nacht mit jemandem kommunizieren zu können, dem ich mich nicht erklären muss! Außerdem sind die US -Amerikaner gesellschaftlich weiter im offenen Umgang mit verstorbenen Kindern, im Aufzeigen der Option »Austragen von nicht lebensfähigen Kindern«.
    Ich selbst wäre nie auf die Idee gekommen, unsere Geschichte so öffentlich zu machen, wie es hier in diesem Buch geschieht. Der Filmemacher, den wir im August 2011 kennengelernt hatten, hatte einem guten Freund von ihm unsere Geschichte erzählt. Und dann kam eins zum anderen. Dieser Freund war Ghostwriter, jemand, der im Hintergrund zusammen mit dem eigentlichen Autor die Geschichte niederschreibt. So trafen wir damals im Oktober Lukas Lessing, und nach einem gemeinsamen Abendessen machte er den Vorschlag, ein Exposé über unsere Geschichte zu erstellen, um es Verlagen vorzustellen. Tibor und ich hatten mit Lukas ein gutes Gefühl. Jemandem unsere Geschichte so im Detail zu erzählen, fühlte sich für uns so an, als würden wir ihm Julius anvertrauen. Noch während wir im Allgäu waren, erfuhren wir von Lukas, dass es eine sehr positive Resonanz mehrerer Verlage auf unser Exposé gegeben hatte. Wir waren überrascht. Aber Tibor und ich hatten uns gesagt, dass wir den Dingen ihren Lauf lassen würden. Wenn es so sein sollte, würde es ein Buch geben. Wenn nicht, wäre es auch in Ordnung.
    Das Schreiben war für mich selbst eine schmerzhafte, aber heilsame Therapie – alles noch einmal durchzugehen, genau zu überdenken, mich Schritt für Schritt zu erinnern, die alten Aufzeichnungen zu durchforsten. Das kostete mich viele Tage und Nächte, viele Tränen und dunkle Stunden, aber es half mir auch, zu verarbeiten, abzulegen in ein Stück gebundenes Papier. Um alles präsent zu haben, besuchte ich noch einmal das Krankenhaus, in dem Julius zur Welt kam, und traf dort die Ärzte, mit denen ich neun Monate zuvor so viel zu tun gehabt hatte. Der Chefarzt der Gynäkologie erinnerte sich sofort an mich, weil ihn der Fall Julius sehr bewegt hatte – immerhin entschieden sich doch die meisten Frauen in meiner Situation für eine Abtreibung, wie er mir mitteilte – ein Eingriff, der in dem katholischen Krankenhaus freilich nur dann vorgenommen wird, wenn unmittelbare Lebensgefahr für die Mutter besteht. »Wir unterstützen hier Paare, die auch eine kurze Lebensphase der Kinder erleben wollen«, sagte Dr. Abou-Dakn, »und ich bin sehr froh darüber. Früher arbeitete ich an einem städtischen Krankenhaus, wo ich viele Abtreibungen durchführen musste, wobei es mir aber nicht gutging …«
    Die Chefärztin der Kinderklinik, Dr. Beatrix Schmidt, erzählte aus ihrer Praxis, dass sie in ihren siebenundzwanzig Dienstjahren erst drei Kinder mit einer Erkrankung wie bei Julius gesehen hatte: Ein Kind war mit dieser Diagnose geboren worden, ohne dass es vorher bekannt war – es starb im Inkubator. In einem anderen Fall wurde die Schwangerschaft beendet, und das dritte Baby verstarb nach einer Operation. »Im St. Joseph Krankenhaus werden pro Jahr ungefähr zwei bis drei Neugeborene mit letalen Fehlbildungen geboren und deren Familien begleitet«, sagte Dr. Schmidt. »Viele Paare entscheiden sich aber für eine Beendigung der Schwangerschaft – die sehen wir hier nicht. Paare und Mütter, die sich in einer solchen Notlage für unser Haus entscheiden, haben dies sehr gut überlegt und sich von vielen Menschen beraten lassen. Alles hängt vom Einzelfall ab«, fügte sie hinzu, »für
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