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Viereinhalb Wochen

Viereinhalb Wochen

Titel: Viereinhalb Wochen
Autoren: Constanze Bohg
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manche Mütter ist es besser, das Kind kommt auf natürlichem Wege zur Welt, und für manche ist es besser, wenn sie einen anderen Weg wählen.«
    Ich mochte die eher resolute Ärztin, denn sie wirkte ehrlich und authentisch: »Früher war klar, dass von den vielen Kindern, die eine Frau bekam, auch welche versterben. Heute ist jedes Kind etwas ganz Besonderes und häufig lange geplant. Mit 1 , 4  Kindern pro Frau gehört Deutschland zu den sehr geburtenarmen Ländern. Die frühere Normalität vieler Schwangerschaften und vieler Kinder ist verlorengegangen – gerade Kindern ist es nicht erlaubt, zu sterben. Der Tod eines Kindes ist für alle, auch für die behandelnden Mediziner, immer schrecklich. Der Tod eines Kindes kann keine Routine werden, und das Entsetzen darüber ist immer da.«
    Genauso hatte ich die Reaktion der Ärztin damals mir gegenüber auch aufgenommen – als Abweichung von der Routine und als heftige Bewegtheit, trotz aller abgeklärter medizinischer Gewissheit und Professionalität.
    Ich besuchte auch noch einmal unsere Therapeutin, Frau Fricke – und die Praxis für Pränataldiagnostik, um dort mit den Ärzten zu sprechen, die mich behandelt hatten, Professor Chaoui und Frau Dr. Sarut López. Das war für mich der mit Abstand schwerste all dieser Recherchetermine, ihn konnte ich nur zusammen mit Tibor in Angriff nehmen. Beiden war uns hundeelend den ganzen Tag, an dem wir gegen Abend, nach der letzten Patientin, mit den beiden Ärzten in ihrer Praxis verabredet waren.
    Seit der Diagnose hatte ich es immer vermieden, überhaupt nur in die Nähe der Friedrichstraße zu kommen, aus Angst, dort zusammenzubrechen, überwältigt von den bösen Erinnerungen. Doch für diesen Termin war das nicht zu vermeiden. Noch mehr: Ich wollte mich diesem einzigen dunklen Fleck in meiner Julius-Reise endlich stellen. Tatsächlich hatte ich weiche Knie, als wir aus der S-Bahn stiegen, und tatsächlich musste ich all meine Tränen entladen, sobald mich Professor Chaoui in den Ultraschallraum führte, weil ich den noch einmal sehen wollte – doch das waren heilsame Tränen. Ich hatte das Gefühl, als wollte meine Seele in diesem Moment etwas reinigen, als wollte sie den Raum, die Straße, den Tag erlösen.
    So stellte ich mich bewusst in den Raum, meine Hand in der Tibors, und sah bewusst jedes Detail an: Die Behandlungsliege, den Tisch, die Stühle, den Flatscreen, das Ultraschallgerät, in aller Ruhe. Das ist der Abschluss, dachte ich in jenen Momenten, die Erlösung, die Absolution. Bis dahin war dieser Raum ein Stück Schwärze gewesen in meinen Julius-Erinnerungen. Alles andere war längst bunt und schön, auch wenn es traurige Erinnerungen waren, nur an diesen Tag der Diagnose hatte ich bis dahin nicht herangewollt, weil er so weh tat. Ich wusste nur, dieser Tag ist da, wie ein Haufen Staub unter dem Bett, das letzte Stück Dunkelheit, und an diesem Tag hole ich das von dort unten hervor.
    Jetzt sehe ich nur mehr Licht in der Verbindung mit Julius. Jetzt kann ich wieder über die Friedrichstraße gehen, jederzeit, ich kann wieder vis-à-vis zu Dussmann hinein und in Büchern schmökern. Ich kann wieder ins Vapiano nebenan gehen und dort Pizza essen – und wir werden, wenn es so weit ist, wohl auch mit unserem nächsten Kind wieder zu Professor Chaoui gehen, um mich untersuchen zu lassen.
    Am meisten freute mich, dass unser Treffen auch für ihn eine Bereicherung war, weil er seine Patientinnen sonst selten wiedersieht, vor allem, wenn er ihnen so schreckliche Diagnosen mitteilen musste. Er erzählte uns auch, nicht damit gerechnet zu haben, dass wir uns für das Austragen entscheiden würden – eine seltene Wahl, wie er versicherte, die er bei dieser Schwere der zu erwartenden Behinderung eines Kindes noch nie erlebt hatte in seiner langjährigen Praxis. Wir sprachen auch über die Einstellung der Öffentlichkeit zu seiner Arbeit, die oft negativ sei. »Viele denken, ich hätte den Auftrag, die Menschheit einzuteilen in Tod und Leben«, erzählte er, »aber so ist das nicht für mich. Ich verstehe mich als Dienstleister, ich zeige nur, was ist. Ich biete Entscheidungsgrundlagen, das ist alles.« Professor Chaoui erzählte mir auch noch über die erschreckend hohe Zahl von Abtreibungen in Deutschland – auf nicht einmal 700000 Geburten kamen zuletzt mehr als 110000 Abtreibungen, das sind 16 von 100 Kindern. Lediglich tausend dieser Abbrüche werden vorgenommen, weil eine Behinderung des Kindes zu
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