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Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)

Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)

Titel: Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)
Autoren: Johannes Clair
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Schlafsack lag, dachte ich darüber nach, was wir hier versuchten. Dieses Land war so anders als unseres. Konnten wir mit unseren Wertvorstellungen überhaupt für ein sicheres Umfeld sorgen?
    Wir als Soldaten versuchten hier etwas und hatten doch keine richtige Idee, was dieser Versuch bedeutete. Ich hatte mir eingebildet, einfache Antworten zu bekommen. Aber die wesentlichen Dinge waren kompliziert, weil so viele Menschen daran beteiligt waren. Vielleicht bestand das Problem darin, dass es niemand schaffte, auf die komplizierten Fragen einfache Antworten zu geben. Wenigstens wusste ich jetzt, dass ich diesen eingeschlagenen Weg zu Ende gehen wollte. Auch wenn ich nicht alle Fragen beantworten konnte, die sich daraus ergaben. Aber ich musste eine Entscheidung treffen. Nur das war jetzt wichtig.
    Als mich Hardy am nächsten Morgen weckte, wollte ich nicht aufstehen, schließlich lag ich noch nicht sehr lange im Schlafsack. Aber er rüttelte an meiner Schulter, bis ich nachgab.
    Was ’n los?, wollte ich wissen.
    Da vorne bei dem brennenden Gebäude ist ein feindlicher Beobachter. Ich hab ihn mit dem Fernglas erkannt. Er hat ’n Funkgerät oder so was und ’n Fernglas.
    Ich kam ruckartig hoch. Schlüpfte in meine Stiefel und kroch neben Hardy an den Wall.
    Gib mir mal das Fernglas, sagte ich leise und bewegte mich vorsichtig.
    Tatsächlich, eines der Nachbargebäude hatte einen turmartigen Aufbau. Dort stand ein Mann, halb verdeckt, und sah sich vorsichtig um. Ein Gewehr lehnte neben ihm an der Wand, und er sagte etwas in ein Handy oder Funkgerät. Vielleicht wollte er Zielangaben für einen Mörser durchgeben.
    Etwas musste geschehen. Als ich nach meiner Waffe griff, spürte ich plötzlich eine Wut in mir aufsteigen. Wut auf diese Menschen, Wut auf die ganze, beschissene Situation. Wut darauf, dass wir in den letzten Tagen nur wie Hunde am Boden kriechen konnten. Wut darauf, dass die da drüben die ganze Zeit versuchten, uns alle umzubringen. Mit der Wut stieg auch die Entschlossenheit in mir. Entschlossenheit, meine Waffe fest zu packen. Als ich meinen Körper vorsichtig und langsam ganz nach oben auf den Wall schob, legte Hardy sich neben mich. Von hier oben aus konnte ich den Mann gut erkennen. Aber plötzlich verschwand er.
    Scheiße, presste ich durch die Lippen.
    Ohne uns abzusprechen, blieben wir einfach liegen. Bewegten uns nicht und beobachteten. Hardy mit dem Fernglas und ich mit dem Zielfernrohr. Als Hardy nach einer Stunde schließlich in seinem Schlafsack verschwand, blieb ich allein auf dem Wall liegen. Innerlich war ich wütend auf mich selbst. Darauf, mich in den letzten Tagen verkrochen zu haben. Versagt zu haben. Jetzt war ich fest entschlossen, es denen heimzuzahlen. Auch deshalb waren wir schließlich hier in diesem Dorf. Um etwas von dem zurückzuholen, was unsere Vorgänger am Karfreitag hier verloren hatten. Sie sollten nicht umsonst gefallen sein. Und schließlich lag dort immer noch der Rest ihres Dingos. Drüben, in Isa Khel. Nach einer Weile kam Muli zu mir und meinte, dass ich aufpassen soll. Hier oben könnte ich nicht ewig liegen bleiben, schließlich würden sie wieder anfangen zu schießen.
    Als ich eine Stunde später eine leichte Windböe im Gesicht spürte und meinen schmutzigen Ärmel zur Seite schob, um auf die Uhr zu sehen, war der Mann plötzlich wieder da. Blickte durch ein Fernglas und sprach in sein Funkgerät.
    Als ich mein linkes Auge schloss, um durch das Zielfernrohr sehen zu können, schien es mir fast so, als würde er mich ansehen. Zwei Männer, die sich gegenüberlagen und einander betrachteten. Aber hatte er mich wirklich erkannt? Vielleicht kam es mir auch nur so vor. Während ich mich langsam nach vorne schob, um die Waffe noch stärker in die Schulter zu pressen, während ich mich mit den Füßen abstützte und den Finger langsam zum Abzug bewegte, schien die Welt um mich herum für einen kurzen Augenblick anzuhalten. Ich fürchtete mich nicht. Ein letztes Mal kniff ich das sandige Auge zusammen und spürte mit dem Finger den Abzug. Als ich ihn langsam nach hinten bewegte, fühlte ich den letzten Widerstand, bevor der Schuss brach. Bevor die Waffe abgefeuert wurde, bevor das tödliche Geschoss das dunkle Rohr verließ. Noch konnte ich davon ablassen. Aber ich wollte nicht. Ich war fest dazu entschlossen.
    Gleich würde ich abdrücken. Konnte ihm mit einem Schuss das Leben wegnehmen. Nur ein Druck mit dem Finger, dem so große Macht innewohnte. Alles, was er
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