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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Autoren: Boris Koch
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Der zweithöchste Gang war eingelegt, und ich konnte nicht riskieren zu schalten, manchmal sprang dann die Kette herunter, und das wäre das Ende meiner Flucht. Ich legte alles Gewicht auf den rechten Fuß, dann auf den linken. Rechts, links, nur zäh gewann ich an Fahrt, und Klaus holte auf. Mit jedem Schritt kam er näher und näher, und ich trat wie blöde, rechts und links und rechts und links, und eins und zwei und eins, und endlich hatte ich den Rhythmus gefunden und flog davon, schneller und schneller, und Klaus blieb fluchend zurück.

2
    »Hast du gut geschlafen, Jan?«, fragte meine Mutter und stellte einen Becher Kaffee an meinen Platz.
    Es war sieben Uhr, in zwanzig Minuten musste ich zur Schule. Meine Mutter musste heute nicht aus dem Haus, war aber mit Jeans und Bluse richtig angezogen, wie immer. Sie war auch geschminkt, das blonde Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden. Während ich mich setzte, blieb sie zwischen Kühlschrank und Kaffeemaschine stehen und musterte mich mit den graublauen Augen, die kleine Lügen viel zu leicht entdeckten.
    »Ja«, sagte ich, obwohl ich fast gar nicht geschlafen hatte, und sah dabei den Becher an. Niemand hatte mitbekommen, dass ich nachts ausgebüxt war, aber auch danach hatte ich noch wachgelegen, bis die ersten Vögel zu singen begannen. Ich wusste nicht, warum es immer heißt, sie würden singen – für mich klang es wie ein ewig gleiches Schimpfen.
    Mutters ständige Fragen, ob ich gut geschlafen hätte, gingen mir auf den Keks, und ich antwortete immer mit Ja . Wenn ich Nein sagte, änderte das auch nichts, aber dann fragte sie: Warum?
    Ich wollte nicht reden, nur meine Ruhe haben, und in der Schule würden mich noch genug Leute nerven. Warum müssen Mütter sich immer Sorgen machen?
    »Gut«, sagte sie, obwohl sie meine Augenringe bemerken musste. Sie sah darüber hinweg, mein Ja langte ihr. Wahrscheinlich dachte sie, dass ich damit zumindest den Willen bewies, gut zu schlafen, und wo ein Wille war, da war ein Weg, wie es so schön hieß.
    »Willst du Müsli oder Brot?«
    Ich wollte weder noch, sagte aber: »Brot.« Weil es nur eine Silbe hatte.
    Ich aß langsam und schweigend, sie sah mir dabei zu. Ich fragte nicht, worüber sie gerade schrieb, sie hatte es mir bestimmt schon gesagt. Irgendwas mit Wasser oder Schmelzöfen, aber vielleicht war das auch letzten Monat gewesen.
    Mein Vater schaute herein, noch im Schlafanzug, ungekämmt und ohne Brille, er musste erst nach mir aus dem Haus. »Na, wie hast du geschlafen, Junge?«
    »Gut.«
    »Na bitte«, sagte er, als hätte er mir damit etwas bewiesen. »Wo ist deine Schwester?«
    »Pia hat erst zur zweiten Stunde«, antwortete meine Mutter und deutete auf die ausgedruckten Stundenpläne an der Pinnwand neben der Tür. Darunter hing ein zwei Jahre altes Urlaubsfoto von uns vieren am Strand, auf dem wir alle lachten. Einen Augenblick später war Mutters Hut davongeweht worden, raus auf die Wellen, ein neuer heller Strohhut mit rotem Band. Pia und ich waren um die Wette gerannt und geschwommen, doch weder sie noch ich konnten ihn einholen. Manchmal machten wir noch immer Witze darüber und sagten bei Fernsehdokumentationen, gleich schwimmt Mamas Hut ins Bild. Kein besonders lustiger Witz, aber wenn ihn einer bringt, fühlen wir uns wohl. Der Witz verbreitet das Gefühl von Familie, von den schönen Seiten. Er ist so alt und vertraut.
    Mein Vater eilte ins Bad, um sich zu duschen, bevor Pia aufstand.
    »Ich muss dann jetzt«, sagte ich, klappte das angebissene Brot zusammen, nahm es in die Hand und stürzte zur Tür. Ich musste hier raus, aber wenn ich nicht aufaß, sahen mich die graublauen Augen wieder so an, und das ertrug ich nicht. Natürlich hätte ich es auch nicht ertragen, wenn sie mich nicht angesehen hätte. Nicht mal den Gedanken an ihren Hut ertrug ich. Ich musste raus, bevor ich noch losschrie.
    »Fahr nicht einhändig!«, rief sie mir hinterher, als könnte ich das Brot auch mit der Nase oder den Ohren halten. »Und fahr vorsichtig!«
    »Ja.«
    »Und viel Spaß!«
    Natürlich.
    Die Tür zur Garage fiel hinter mir ins Schloss. Ich klemmte die Schultasche auf den Gepäckträger und radelte los. Sobald ich im Tritt war, löste ich beide Hände vom Lenker. Früher war ich fast nur freihändig gefahren, die Arme verschränkt oder lässig in die Taschen gehakt, und trotzdem die volle Kontrolle. Ich hatte es getan, weil es einfach cooler war, nun tat ich es, um meine Mutter zu ärgern. Die Arme ließ ich
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