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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Autoren: Boris Koch
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ein.
    Über den Zaun und die Hecke des Nachbarn hinweg konnte ich einen Schemen erkennen, der sich langsam von rechts näherte, während sich mein Fahrrad links befand; dort, wohin er sich bewegte. Zwei aneinandergeschmiegte Gestalten unter einem mächtigem Schirm, eine sehr groß.
    Das Klügste wäre gewesen, einfach nur in Deckung zu gehen, mich hinter dem Auto zu verschanzen und abzuwarten. Doch ich war nicht klug, ich hatte Angst, sie würden mich sehen, mein Werk – vielleicht hatten sie mich auch schon entdeckt. Ich hatte Angst, sie würden mir in wenigen Sekunden den Weg zum Rad versperren. Oben bei Gerber ging ein Licht an, und ich dachte, er hätte mich gehört und würde gleich rauskommen. Ich wollte nicht zwischen allen festgesetzt sein, in die Ecke gedrängt, vielleicht waren das dort draußen Gerbers Freunde oder zumindest Nachbarn. Näher und näher kamen sie, absatzklackernd und lachend, ich dachte an eine sich zuziehende Schlinge, oder wahrscheinlich dachte ich überhaupt nicht, sondern zerrte mir die Kapuze tief ins Gesicht und sprang über das Tor hinaus, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den Stift mit der Faust umklammert. Ohne zu zögern, spurtete ich los. Wasser patschte aus Pfützen.
    »He!«, rief eine Männerstimme hinter mir.
    »Ups.« Eine Frau kicherte.
    Ich drehte mich nicht um, sondern rannte stur weiter, dachte nur an das wartende Rad und verfluchte mich, es abgesperrt zu haben. Wer sollte es hier denn klauen? Die beiden durften mir nicht folgen, nur dann bliebe mir genug Zeit, es aufzusperren.
    Hoffentlich sind es keine Freunde von Gerber , wünschte ich. Oder solche Nachbarn, die sich in alles einmischen und feuchte Träume von einer bewaffneten Bürgerwehr haben, angeführt von ihnen selbst.
    Meine Füße klatschten so laut auf den Asphalt, dass ich nicht hören konnte, ob mir wer folgte. Also warf ich einen schnellen Blick über die Schulter zurück.
    Vor Gerbers Einfahrt standen ein Brocken von einem Mann in Jeans und eng anliegendem T-Shirt und eine schwarzhaarige kleine Frau in Sommerkleid, Jäckchen und leuchtend weißen Pumps. Schützend hielt der Mann den roten Regenschirm über sie beide, den größten Teil über sie. Sie blickten in die Einfahrt, als erwarteten sie dort eine aufgebrochene Tür oder brennende Mülltonnen. Ich sah wieder nach vorn.
    »Hey!«, brüllte der Mann drei Schritte später, und ich blickte mich wieder um. Brüllend kam mir der Mann noch größer vor, er musste über zwei Meter messen. »Bleib stehen, du Rotznase!«
    Rotznase hatte man mich ewig nicht mehr genannt. Ich hatte damals nicht darauf reagiert und tat es heute auch nicht.
    Er spurtete los. Zwei, drei Schritte rannte er mit dem Schirm in der Hand, dann ließ er ihn einfach fallen, weil er ihn zu sehr behinderte. Der Schirm landete kopfüber im Rinnstein. Ich sah wieder nach vorn und raste wie bekloppt davon.
    »Klaus!«, rief die Frau, die hinter ihm im Regen stand. »Klaus!«
    Doch Klaus hörte so wenig wie ich, ich hörte seine schweren Schritte auf den Asphalt patschen. Die Zeit würde nicht reichen, um das Schloss aufzusperren.
    »Klaus!« Die Frau klang ebenso ängstlich wie ärgerlich. »Wenn hier noch einer ist?«
    Weiterstürmend warf ich wieder einen Blick zurück, und tatsächlich hatte Klaus angehalten. Unentschlossen stand er mitten auf der Fahrbahn und grübelte wohl darüber nach, ob ich wirklich allein fliehen würde, wenn ich nicht allein gewesen wäre, ob eine Überzahl überhaupt fliehen würde. Wohl nicht. Aber was, wenn gegen jede Wahrscheinlichkeit doch noch eine weitere Rotznase irgendwo lungerte, vielleicht sogar aus dem verrufenen Oberhausen? Spielte es überhaupt eine Rolle, wie viele wir waren, wenn seine Frau überzeugt war, er hatte sie im falschen Moment allein gelassen?
    Sie hob den Schirm aus dem Rinnstein, ihre Miene konnte ich nicht erkennen.
    Auf den letzten Metern zum Rad fingerte ich bereits den Schlüssel aus der Seitentasche. Schlitternd kam ich zum Stehen und stieß ihn ins Schloss. Während ich ihn umdrehte, sah ich zurück.
    »Der ist allein!«, schrie Klaus und rannte wieder los. »Nur ein Rad!«
    Seine Frau wirkte klein und verloren unter dem riesigen Schirm, aber sie rief ihm nicht hinterher. Würde er mich jetzt kriegen, wäre sie bestimmt stolz auf ihn und nicht mehr verärgert.
    Das dachte wohl auch der schnaubende Klaus.
    Ich umklammerte das offene Schloss mit der Rechten, es blieb keine Zeit, es festzuschließen, und sprang in den Sattel.
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