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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin
Autoren: Martina Kempff
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Ende Mai 1219
    B ist du von allen guten Geistern verlassen?«
    Raimund von Toulouse packte die Tochter, die ihm siebzehn Jahre
zuvor eine seiner Gespielinnen mit den Worten: »Nimm den Balg oder ich
ertränke ihn«, in den Arm gedrückt hatte, und schüttelte sie.
    »Hier herrscht Krieg, Clara!«, brüllte der Graf. »Was fällt dir
ein, den sicheren französischen Hof zu verlassen und zu uns in den gefährlichen
Süden zu kommen?«
    »Simon von Montfort ist doch tot«, wisperte Clara. »Ich dachte,
damit ist alles vorbei.«
    »Nichts ist vorbei!«, donnerte Graf Raimund. Er zog seine
gewaltigen Pranken zurück, die sich in Claras Schultern gegraben hatten. »Du
musst augenblicklich nach Paris zurück!«
    Clara warf einen flehenden Blick
auf ihren Halbbruder, der in einem ordentlichen Ehebett gezeugt und nach
dem Vater benannt worden war. Bei ihrer
Ankunft hatte er ihr zugeflüstert, wie wunderschön sie doch erblüht sei. Das
großartige Gefühl, am Grafenhof von Toulouse willkommen zu sein, hätte Clara
gern weiter ausgekostet. Die Heftigkeit des Vaters erschreckte sie. Er hätte
die so lange abwesende Tochter nicht schütteln, sondern in die Arme schließen
sollen!
    »Darf ich nicht zu Hause bleiben?«
    Sie biss sich auf die Lippen.
Die Frage klang eine Spur zu weinerlich. Wahrscheinlich, weil sie nicht ganz
von Herzen kam. Claras Zuhause war schließlich der französische Königshof in
Paris, an dem sie seit zehn Jahren in der Obhut der Kronprinzessin Blanka von
Kastilien lebte. Die vierzehn Jahre Ältere ersetzte Clara gewissermaßen die so
früh aus ihrem Leben entschwundene Mutter.
    Aber Blanka war auch Mutter vieler eigener Kinder, von denen
andauernd eines starb. Woran sie sich offenbar nicht gewöhnen konnte. Als
kürzlich ihr neunjähriger Liebling Philipp das Zeitliche gesegnet hatte, ihre
größte Hoffnung für Englands und Frankreichs Throne, war sie für acht Wochen in
ihren Gemächern verschwunden, hatte Claras Gesellschaft abgelehnt und sich nur
von ihrem geliebten Gemahl Kronprinz Ludwig trösten lassen. So gründlich, dass
sie danach wieder guter Hoffnung und somit in einer Sphäre war, in die Clara
ihr nicht folgen konnte.
    Am Königshof war es überhaupt traurig und langweilig geworden. Viele
Gefährtinnen hatten geheiratet und die meisten der früher so fröhlichen jungen
Männer das Kreuz geschultert, um irgendwelche Häretiker im benachbarten
Okzitanien auszurotten, in Graf Raimunds und somit auch Claras Heimatland. Das
Unbehagen, auch kirchentreue Christen ins Jenseits zu schicken, war der frohen
Aussicht gewichen, Ablass für Sünden zu erhalten, ohne sich auf eine
gefahrvolle Reise ins Heilige Land begeben zu müssen.
    »Wir sind mittendrin, Clara, und es wird immer schlimmer«, meldete
sich jetzt ihr Halbbruder Raimund zu Wort. »Simons Sohn Amaury wütet wie sein
Vater und wird nicht ruhen, bis wir allesamt vernichtet sind. Wir können froh
sein, Toulouse zurückerobert zu haben.«
    »Wie unverantwortlich von meiner Nichte Blanka, dich ziehen zu
lassen!«, schimpfte der alte Graf. Er fuhr sich durch den kurzen eisengrauen
Schopf, bis dieser wie ein Stachelkranz sein Haupt krönte. Am liebsten hätte er
sich jedes Haar einzeln ausgerissen. Das würde aber auch nichts an dem
traurigen Gedanken ändern, seine Tochter nur bei jenen in Sicherheit zu wissen,
die sein Land und ihn zerstören wollten.
    Clara senkte die Lider.
    »Blanka weiß nicht, dass ich hier bin«, flüsterte sie fast unhörbar.
    »Du hast dich ohne Erlaubnis vom Hof entfernt?«
    Clara hob trotzig das Kinn.
    »Und du beschützt ohne Erlaubnis Häretiker?«, fragte sie
herausfordernd zurück.
    Ihr Vater holte mit der rechten
Hand aus. Clara zuckte zusammen. Sie rechnete mit einem Schlag, der sie in die
hinterste Ecke des Saals befördern würde, doch der Graf stapfte mit zitternder
hocherhobener Hand an ihr vorbei und riss die Tür auf.
    »Schick sie augenblicklich zu den Franzosen zurück!«, brüllte er
seinen Sohn an und knallte die Tür hinter sich ins Schloss.
    Eine Stunde später saß Clara bereits wieder auf der
schwarzen Stute, mit der sie am frühen Morgen in Toulouse eingetroffen war.
    »Wo sind die Männer, die dich hergebracht haben?«, fragte Raimund,
der ihr Pferd vor der Burg am Zügel hielt.
    Clara atmete tief das süße Aroma der weißlichen Blüten des
Geißblatts ein, das sich an einer Hecke vor dem Gemäuer der Burg in die Höhe
rankte. Zu späterer Stunde wird es noch betörender duften, kamen mit einem
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