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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Autoren: Boris Koch
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Dann steckte ich ihn mir unter dem T-Shirt in die Hose und ging los.
    »Wo gehst du hin?«, rief mir meine Mutter hinterher.
    »Raus. War doch deine Idee.«
    »Bist du zum Essen wieder da?«
    »Ja.« Damit sagte ich nicht, zu welchem Essen. Woher sollte ich das jetzt schon wissen?
    Ich fuhr mit dem Rad drei Dörfer weiter, damit mich der Poststempel nicht verriet, zog eine Marke aus dem Automaten und warf den Brief ein.
    Auf dem Heimweg setzte ich mich an den Goldbach und zündete mir eine Kippe an, weil auf der Tabakpackung stand, Rauchen sei tödlich, weil ich Christoph nahe sein oder dem Tod ins Gesicht spucken wollte. Oder einfach nur, weil ich irgendetwas anzünden wollte. Rauchend wartete ich auf den Sonnenuntergang.

3
    In den nächsten Tagen verschickte ich noch weitere Briefe mit Aufklebern vom Tod oder zertrümmerten Modellrädern. Manchmal legte ich auch einen Zettel mit einer Botschaft aus ausgeschnittenen Buchstaben bei.
    Warum?
    Justizirrtum.
    Wir vergessen nicht.
    Das alles war nicht sehr geistvoll, aber das sollte es auch nicht sein, sondern unangenehm. Es sollte ihm wehtun und am besten Angst machen.
    Wir lassen dich nicht vergessen.
    Wir klang einfach besser als ich . Er sollte sich von einer unsichtbaren Masse bedroht fühlen. In seinem Kopf sollte sie jeden Tag größer werden, er sollte denken, dass alle gegen ihn waren, er durfte nicht wissen, dass ich nicht alle war, sondern allein.
    Seit Christophs Tod war ich allein. Ich war abgeschnitten von der Welt, alles und jeder erschien mir hohl, sinnlos, fremd.
    Ich malte mir aus, wie die Briefe Gerber immer weiter in die Ecke trieben, ihm den Schlaf raubten, den Verstand, und wie er schließlich aus dem Fenster sprang, um genauso zerschmettert auf der Erde zu liegen wie Christoph. Ich dachte an Blut und kalte weiße Linien auf Asphalt. Danach ging es mir keinen Deut besser.
    Wie im Fieber überlegte ich, was ich in den nächsten Brief stecken konnte. Es musste etwas geben, das half.
    Ein Umschlag mit schwarzem Rand, wie man ihn in Todesfällen verschickte.
    Eine selbst gestaltete Briefmarke aus dem Foto eines Karners mit einem Altar aus Schädelknochen. Das Herkunftsland Jenseits, der Wert 30 Silberlinge. Hauptsache vorwurfsvoll und böse.
    Irgendwann verschickte ich einfach drei Blatt Klopapier. Nichts half.
    Jeden Tag erwartete ich, dass die Polizei mich befragte, aber sie kam nicht. Ich war erleichtert und zugleich enttäuscht, weil nichts geschah.
    Stattdessen kam eines Abends mein Vater in mein Zimmer. Er arbeitete in einer Medienagentur in Augsburg, weil er immer etwas Kreatives hatte machen wollen. Seit ein, zwei Jahren machte er jedoch vor allem Überstunden, und wenn er von der Arbeit erzählte, erzählte er von zähen Kundengesprächen, von begriffsstutzigen Idioten, von Knausern und an guten Tagen von hoffnungsvollen neuen Kontakten in großen Firmen, in Weltkonzernen . Aus manchen tollen Kontakten wurden sehr schnell Idioten, oder ein Kollege verpfuschte den Deal , und dann musste mein Vater wieder eine kreative Lösung für das Problem finden.
    »Die Gelder sitzen nicht mehr so locker wie früher«, sagte er, wenn er müde war und sah zu Pia und mir. »Für euch wird es nicht leichter.«
    Im Flur hing ein Foto von ihm, dass ihn als Mittzwanziger auf der Berliner Mauer zeigte, unrasiert und jubelnd. Als Student war er sofort nach ihrem Fall hochgefahren, um zu feiern. Es war sein liebstes Bild von sich selbst, und ich als sein Sohn kannte ihn ganz anders. Ich glaube, das bedauerten wir beide. Er war ein großer schlanker Mann mit dünnem blondem Haar, kleinem Bäuchlein, festem Händedruck und einem lauten, ansteckenden Lachen. Zu jedem Thema wusste er eine passende Anekdote zu erzählen und hatte immer einen flotten Spruch oder eine schnelle Weisheit auf Lager. Je länger er arbeitete, desto schwerer fiel es ihm, das am Feierabend abzulegen.
    Alle sagen, ich habe nur das dünne Haar von ihm geerbt, während ich die braunen Augen, die gerade Nase und die Statur von meiner Mutter habe: Auch wenn ich nicht richtig klein bin, groß bin ich auch nicht. 1,77 Meter, die 1,80 werde ich mit etwas Glück noch schaffen. Haare, Augen, Nase und Statur, mehr Ähnlichkeit fällt kaum jemandem ein.
    Mein Vater glaubte daran, dass die Welt grundsätzlich gerecht war, zumindest die Welt, in der wir lebten. Er war nicht blind für die zahlreichen Ausnahmen, aber im Innersten war er überzeugt, dass man sein Glück erzwingen konnte, dass sich harte Arbeit
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