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Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)

Titel: Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
Autoren: Boris Koch
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niemanden!«
    Wir saßen im Zug nach Augsburg, als Christoph sagte: »Erziehungsberechtigter ist eigentlich eines der dämlichsten Worte, die es gibt, weil es im Endeffekt die meint, die berechtigt sind, einen zu strafen. Einen guten Rat darf einem schließlich jeder geben.«
    »Erziehung ist Strafe! Wusste ich’s doch.« Knolle lachte.
    »Dann ist es doch gut, dass sie nicht Erziehungsverpflichtete heißen«, sagte ich.
    »Sicher?« Er sah mich an.
    »Ja.«
    »Weil … Es ist keine Schwäche, Hilfe anzunehmen. Und ein Kollege hat mir neulich erzählt, dass bei seinem Sohn Ritalin wunderbar geholfen habe. Das war eine ganz andere Geschichte, aber falls du dich in der Schule nicht konzentrieren kannst und dir das Abi nicht versauen willst, dann … Ich meine, du hast kein ADHS, aber es gibt ja für alles etwas, stimmt’s? In den letzten Jahren hat sich da echt viel getan.«
    »Ja«, sagte ich, weil ich hoffte, so würde er rasch die Klappe halten und aus meinem Zimmer verschwinden, mich endlich in Ruhe lassen. Was kümmerte mich jetzt das Abi?
    Echt viel getan?
    Christoph würde nie wiederkommen, da half keine Tablette. Selbst wenn sie ihn aus meinem Kopf löschen konnte, ihn immer weiter verblassen ließ, was wäre daran gut? Das klang wie Alzheimer im Zeitraffer, mit siebzehn.
    Die Normalität, die mein Vater beschwor, existierte doch längst nicht mehr. Normal war die Freundschaft mit Christoph, nicht seine Abwesenheit. Wie sollte ich dahin zurückkehren? Mit einer Zeitmaschine oder mithilfe von Totenbeschwörung?
    Aber all das sagte ich nicht laut, ich schrie nicht und warf nichts gegen die Wand, sondern sagte nur: »Ja.«
    »Gut.« Langsam stand mein Vater auf und wuschelte mir kräftig durchs Haar. »Dann gehe ich mich mal umziehen. In zehn Minuten gibt’s Abendessen. Und wenn du’s dir anders überlegst …«
    »Ja.«
    Ich starrte auf die Tür, die er hinter sich zuzog, auf das eingerissene Poster mit der waffenstarrenden Tussi aus Resident Evil und dachte an alles und nichts. Noch immer kribbelte die Kopfhaut, wo er sie berührt hatte.
    Der Schreibtischstuhl stand verlassen mitten im Raum.

4
    In der dritten Klasse bekam ich zu Ostern einen nagelneuen Lederball, einen teuren Original-WM-Ball. Stolz nahm ich ihn mit zum Bolzplatz zwischen der Siedlung und dem mehrere Meter hohen Wall, auf dem die Eisenbahngleise entlangführten. Auf der anderen Seite des Walls plätscherte ein winziger Bach dahin, an dem wir manchmal kleine braune Frösche fingen, die wir im Wettrennen quer über den Feldweg scheuchten. Die Älteren erzählten, dort habe es früher sogar Salamander gegeben und Molche mit orangefarbenen Bäuchen. Da sie jedoch weniger für ein Rennen geeignet waren, vermissten wir sie nicht.
    Der Bolzplatz war kleiner als ein richtiger Fußballplatz, kürzer und schmaler, und der Rasen so zertrampelt, dass fast überall die schwarze Erde heraussah. Doch vom Vereinsgelände vertrieb uns der Platzwart, sobald er uns entdeckte. Zum Kicken war der Bolzplatz ideal: Man konnte allein hinfahren, und es fand sich immer jemand, der mitmachte. Solange der Drecksack Michi nicht da war, war alles gut.
    Michi war vier oder fünf Jahre älter als ich und lungerte manchmal auf dem Spielplatz herum. Ich glaube, er sollte auf seine kleine Schwester aufpassen, die sich jedoch nicht um ihn scherte und stundenlang im Sandkasten spielte und schaukelte. Michi war ein kräftiger Kerl mit Sommersprossen und hochgegelten Haaren, und irgendwann schnappte er sich immer unseren Ball, setzte sich darauf und rauchte. Die Kippe drückte er dann auf dem Ball aus, und jedes Mal hatten wir Angst, dass er platzen würde wie ein Luftballon, auch wenn er es nie tat. Erst wenn Michi die Lust verlor, uns zu triezen, und aufstand, konnten wir weiterspielen. Wir alle wussten, dass er kein Problem damit hatte, Kleinere zu verdreschen, ganz im Gegenteil. Und so warteten wir, statt zu kämpfen.
    Wir ließen uns demütigen und hofften, dass kein Zug käme. Denn dann begann Michi stets zu grinsen, fischte den Ball unter seinem Hintern hervor und kickte ihn wie ein Torwart beim Abschlag auf die Gleise. Meist prallte der Ball auf das Geröll und hüpfte wild weiter und über den Wall hinaus, manchmal schoss Michi zu kurz, und der Ball landete im Gestrüpp am Fuß des Walls. Aber ich war auch dabei, als ein Ball unter die Räder geriet und von der ungebremst dahinrasenden Bahn zerfetzt wurde.
    An diesem Nachmittag nach Ostern hatte ich Michi nicht bemerkt,
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