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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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aber nicht zur Familie zurückkehrte und später im Haus nebenan wohnte, jahrelang, in einem der neunstöckigen Plattenbauten unserer anonymen sowjetischen Siedlung. Als sie erwachsen wurde und dann alt, wartete sie immer noch, und irgendwann wurde sie stumm, weil sie verstand, dass sie taub wurde, und sie ging zurück zu ihren taubstummen Kindern, die sie ihr ganzes Leben lang unterrichtet hatte, und wenn sie gekonnt hätte, hätte sie auch ihren Tod verschwiegen. Ich hatte sie nach nichts gefragt und frage mich nun, warum ich sie so vollständig verpasst habe, sie und ihr Leben, als hätte ich ihre entschlossene Taubstummheit von Anfang an akzeptiert, ihre Rolle und ihren Dienst. Was habe ich damals überhaupt gemacht, als sie mir das alles hätte schenken können, zum Beispiel das Rezept von EBP . KBAC , mir und ganz Eвропa?
    Perpetuum mobile
    Abstraktes Denken sei nicht meine Stärke, scherzte Onkel Wil, der ältere Bruder meines Vaters, als ich von Reibungsverlusten sprach. Um mich zu prüfen, legte er mir bei seinen Besuchen die witzigsten Aufgaben vor, zu ägyptischen Dreiecken, dem Modell eines Perpetuum mobile, als ob sich mir etwas Grundlegendes offenbaren würde, wenn ich die Lösung fände. Aber die Aufgaben von Wil zu lösen gelang mir nie.
    Er selbst war das Ergebnis einer sowjetischen Metempsychose, einer Umwandlung der Energien zwischen Staat, Seele und Maschine, der ewigen Bewegung meines Landes. Wil wurde 1924, acht Monate nach Lenins Tod geboren, als das Land seine Trauer in der Benennung von Betrieben, Städten und Dörfern ausdrückte – Lenin lebt, und sein Name dreht die Turbinen der Kraftwerke, dein Name sei Lenin, und die Glühbirnen leuchten. So nannten meine Großeltern ihren Erstgeborenen Wil, nach dem verstorbenen Wladimir Iljitsch Lenin, der als Großvater aller sowjetischen Kinder galt, denn Lenin hatte Enkel, wenn auch keine Kinder. Noch fünfzig Jahre später waren wir seine Enkel und sagten Deduschka Lenin, denn bei uns bewegte sich alles, nur nicht die Zeit.
     
    Es wimmelte von fabelhaften Wesen wie Rabfak, Oblmortrest, Komsomol, Molokoopsojus, alles wurde damals abgekürzt und verschmolzen, Mosselprom, Narkompros oder TscheKa, die langlebigste Organisation, die sich später in GPU , NKWD , KGB , FSB verwandelte. Ich kannte
eine Ninel, das Palindrom von Lenin, einen Rem, Sohn von Trotzki-Anhängern aus der Weltrevolution, Rewolutsija Mirowaja, einen Roi, Revolution-Oktober-International, ich kannte sogar eine sehr nette Stalina.
    Vielleicht hatte die Wahl des Namens auch damit zu tun, dass meine Großeltern noch Jiddisch konnten, durch Wil schimmerte das jiddische Wille hindurch, und in der Tat war niemand in unserer Familie so zielstrebig wie Wil, ständig optimierte er seinen Wirkungsgrad, und sogar die Behörden spielten mit. Als er 1940 mit sechzehn Jahren in Kiew einen Pass beantragte, bekam er ein Dokument, in dem in der fünften Zeile Russe stand, obwohl seine Eltern Juden waren, mit der entsprechenden Notiz in ihren Pässen. Mit blondem Schopf, blauen Augen, breiten Schultern und schmalen Hüften sah Wil in der Tat aus wie der wackere Iwan aus dem Märchen. Infolge welcher mathematischen Operationen sich aus zwei Juden ein Russe ergab, und zwar nicht bei der Geburt, sondern beim Besuch einer Passbehörde, blieb ein Geheimnis, aber im Ergebnis war Wilja, wie wir ihn nannten, zu einem vollwertigen Russen geworden, ohne jüdischen Ballast. Die wahre Herkunft war ein Detail, eine unnötige Zugabe, an die man sich lieber nicht erinnerte, außerdem gab es nichts, woran man sich hätte erinnern können, es gab nur die Zukunft, denn die Welt ist groß und die Wissenschaft unendlich.
     
    Der kleine Bruder von Wil, mein Vater Miron, acht Jahre später geboren, trug den abgewandelten Namen des Großvaters Meir und hatte das Wort Jude im Pass stehen. Weil es für ihn kein Judentum mehr gab, wurde auch Miron zum Russen, Bürger einer Nation von Lesern. Auf seine Her
kunft blickte er respektvoll und nachdenklich zurück, wenn auch bisweilen etwas verwundert, was er damit zu tun haben sollte.
     
    Die ganze Sowjetunion war gegen die Gravitation und träumte vom Fliegen, Wil wollte Flugzeuge bauen, selbst sein Körper war aerodynamisch, klein und beweglich genug, um ohne Reibungsverluste durchs Leben zu gehen. Wil hätte der Hymne der sowjetischen Luftwaffe entstammen können, die damals alle sangen: Wir sind geboren, Märchen wahr zu machen, zu überwinden Raum und All, der
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