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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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Erinnerung im ganzen Land, man entging ihr nicht, denn sie wurde zur Prophezeiung, mit ihrer offenbaren Wahrheit und den versteckten Lügen, man rief uns dazu auf, niemanden und nichts zu vergessen, damit wir vergaßen, wer und was vergessen war. Und so spielten wir im Hinterhof, neben Gummitwist und Völkerball, unaufhörlich die Unsrigen gegen die Faschisten, ein Spiel wie Räuber und Gendarm, 35 Jahre nach dem Krieg.
    Meine Straße hieß Uliza Florenzii, zu Ehren unserer schönen italienischen Bruderstadt, und wir, die dort wohnten, hatten Glück, denn in unserer Adresse manifestierte sich die Schönheit Italiens wie auch unsere Zugehörigkeit zur Welt der Schönheit, dass auch wir schön sein durften, dass auch wir im Geist der Renaissance erzogen wurden, zu neuen wiedergeborenen Menschen, wir sollten im Zentrum des Universums stehen, wenn auch hinter dem Eisernen Vorhang. Die Uliza Florenzii wurde 1975 mit einer Gedenktafel, die man an unserem Haus aufhängte, feierlich eröffnet. Das Haus gehörte einem Sowjetministerium, es war das Sowmin-Haus, wie wir es nannten, und im Ver
gleich mit den neunstöckigen Plattenbauten im sowjetischen Kasernenstil, die unseren Hof umgaben, war unser Sowmin-Haus ein Luxus aus Ziegelstein. Doch hier wohnten keine Minister, sondern Beamte der staatlichen Apparate, mittleres Kader, kleine Chefs, Lehrerinnen mit ihren stillen zerlesenen Bibliotheken, Putzfrauen, Köchinnen, Sekretärinnen, Elektriker, Ingenieure. Für welche Verdienste wir dort eine Wohnung bekommen hatten, in diesem sozialistischen Paradies – vier Zimmer mit Einbauschränken, einer Nische für den Kühlschrank, zwei Loggien und Hängeböden – haben wir nie erfahren. In den ersten Wochen traf mein Vater im Aufzug einen Führungsoffizier des KGB , der ihn Jahre zuvor verhört hatte, und kam mit einer Variante von My home is my castle nach Hause. Mein Heim ist ihre Festung, sagte er.
    Danach zogen die Familien des amerikanischen Konsulats ein, und einmal, am Independence Day, hissten sie eine große amerikanische Flagge auf ihren Balkonen, als hätten sie unsere Festung erobert. Als 1977 die bunte und laute Fußballmannschaft aus Florenz nach Kiew kam, wurde unsere Straße ein zweites Mal eröffnet, obwohl wir dort schon lange wohnten, die Italiener entdeckten uns in unserem Kiewer Florenz, zu ihrer Überraschung, als wären wir Indianer, die von den Europäern in Amerika entdeckt wurden, was für eine Neuigkeit, dass hier Menschen leben! Die Gedenktafel wurde von der einen Seite unseres Hauses auf die andere umgehängt.
    Das Haus war voller Frauen, die in ihrer Jugend vom Dorf in die Stadt gezogen waren. Je älter sie wurden, desto schneller vergaßen sie ihr hastig gelerntes und nie richtig verwurzeltes Russisch und ließen sich von ihrem warmen Ukrai
nisch in die Arme schließen. Wenn sie in Rente gingen, zogen sie ihre buntgeblümten Kopftücher hervor, mit dem Knoten vorn, so dörflich, als hätten sie sie nie abgelegt, sie versammelten sich unten auf der Bank vor dem vierzehnstöckigen Koloss, schälten Sonnenblumenkerne und tauschten den neusten Klatsch aus. Einer der wenigen alten Männer, die in unserem Haus wohnten – die Männer starben Jahrzehnte vor den Frauen – saß auf dem Balkon irgendwo ganz oben und spielte Volkslieder auf der Harmonika, die wehmütig über unserem monumentalen Hof dahinzogen und uns begleiteten auf allen unseren Wegen.
    Ich kannte nur wenige Nachbarn und auch nur flüchtig, zum Beispiel eine bezaubernde Frau und ihren Mann, einen Militärarzt, die sich immer freundlich und vornehm bewegten. Sie hatten eine Tochter, von der wir nicht wussten, wie wir sie nennen sollten, wir gingen nicht zu ihr, über das Down Syndrom wussten wir damals nichts. Niemand behielt damals ein solches Kind in der Familie, vielleicht war es sogar verboten, aber niemand im Haus hätte sich erlaubt, darüber zu tratschen, aus Scheu und Bewunderung. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass die schöne Frau eines der Waisenkinder aus dem Spanischen Bürgerkrieg war, die Ende der dreißiger Jahre in die verbrüderte Sowjetunion gebracht worden waren.
    Ich kannte noch zwei andere Nachbarn, beide waren im Kriegsjahr 1941 geboren: Sergej, eine Kriegswaise aus Ossetien, und Wadim, der bei Partisanen in Polesien aufgewachsen war. Im anderen Flügel wohnte Boris, ein redseliger Mann unbestimmten Alters, stets heiter und hilfsbereit, der einzige, der in einem kleinen jüdischen Städtchen 1941 aus dem
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