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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther
Autoren: Katja Petrowskaja
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Verstand gab uns Flügel, Hände aus Stahl, und statt dem Herzen einen Motor, der Funken schlägt . Auch mein Herz schlug schneller und höher, wenn ich diese Hymne hörte, fünfzig Jahre später, besonders die aufsteigende Melodie, immer höher, höher und höher steuern wir den Flug unserer Vögel, und in jedem Propeller atmet die Ruhe unserer Grenzen .
    Mit achtzehn ging Wil an die Front wie seine ganze Klasse, sie wurden in Uniformen gesteckt und losgeschickt, ohne die geringste Vorstellung vom Krieg, nur von Heldentum. Kaum an der Front in Mozdok im Kaukasus, stürmten die Rekruten einen Panzergraben, der unter Kreuzfeuer lag. Als sie mit ihren Körpern den Graben gefüllt hatten, rollten die Panzer über sie hinweg. Wilja erzählte seinen Eltern nie, was genau dort bei Mozdok passiert war, der einzige, der davon erfuhr, war sein damals elfjähriger Bruder Miron, der dieses Wissen für immer bewahrt hat, vielleicht an seiner statt.
    Als der Graben nach Lebenden durchsucht wurde, entdeckte man Wil. Er lag ganz unten, gequetscht und mit
durchschossener Leiste. Ein Wunder, dass man überhaupt gesucht hat, sagte mein Vater.
    Wil hatte schwere Kontusionen und eine traumatische Epilepsie, er verbrachte Monate in Krankenhäusern. Seine Familie fand er in Aschchabad, Tausende Kilometer vom Kaukasus entfernt. Er war Kriegsinvalide, ließ sich jedoch durch Krankheit nicht aufhalten, im Gegenteil, er machte die Krankheit zum Treibstoff und wurde mit seinen neunzehn Jahren, als Vorsitzender des Komitees für Sport und Wehrpflicht von Turkmenistan, jüngster Minister der Sowjetunion.
    Sein Studium unterbrach er mehrfach, denn die epileptischen Anfälle verursachten wochenlange Erschöpfung. Man musste seine Zunge festhalten, damit er sie nicht verschluckte, immer wieder sprach mein Vater von dieser Zunge, die er festhalten musste, und jedesmal war er über seine eigenen Worte erstaunt. Wie konnte Wilja nach dem Panzergraben immer noch an die Sowjetmacht glauben, fragte ich meinen Vater, und mein Vater sagte, wer zweifelte, hat nicht überlebt.
     
    Schließlich studierte Wil Mechanik und Mathematik in Leningrad, tauschte die Luft gegen das Wasser und wurde Hydroakustiker. Er musste die gleichen Probleme lösen wie beim Fliegen, doch im Wasser sind die Widerstände größer. Wilja optimierte U-Boote, so dass sie alles hörten, ohne selbst gehört zu werden, jede Reibung vermeidend, ihre Geheimnisse hütend.
    Er arbeitete, arbeitete und arbeitete für seine fröhliche Wissenschaft, die Erforschung des Schallfelds und seiner inhärenten Prozesse, die hydrodynamischen Probleme von
Turbulenzgeräuschen und die nichtstationären Aufgaben der Hydroakustik. Sogar seinen Humor stellte er in den Dienst des dialektischen Denkens, seines Perpetuum mobile. Im Namen unseres Friedens arbeitete er für den Krieg, er selbst jedoch sprach vom Gleichgewicht der Kräfte, als ginge es auch hier nur um Mechanik.
     
    Ebenso wie Wil bin auch ich als Teil des staatlichen Stoffwechsels geboren, hundert Jahre nach Lenin. Ich feierte meine Geburtstage zusammen mit Lenin, nur minus hundert. Ich wusste, es wird mir immer helfen, meine Koordinaten in der Weltgeschichte zu finden, aber die Kraft des jungen, aufstrebenden Staats, die meinem Onkel durch Geburt geschenkt wurde, war längst dahingeschwunden. Als ich damals an seinen Aufgaben zum Perpetuum mobile verzweifelte, spürte ich seine Fremdheit. Mein Onkel wusste, dass ich seine Aufgaben nie lösen würde. Wenn eine Lösung für das Perpetuum mobile gefunden würde, wären sämtliche Distanzen aufgehoben sowie die Frage nach Nähe, nach Wärme, nach dem Zweifel, möglicherweise auch nach der Verwandtschaft, denn in Wils Aufgaben galt alles Menschliche als Reibungsverlust, als Hindernis für die ewige Bewegung der geheimen Energien, dem Traum meines Onkels. Vielleicht scherzte Wilja damals gar nicht, als er mir – Abstraktes Denken ist nicht deine Stärke! – das Forschungsfeld der Reibungsverluste überließ, an seiner statt.
    Nachbarn
    Einen Großteil meiner Kiewer Kindheit verbrachte ich in einem neuen vierzehnstöckigen Wohnblock auf der linken Seite des Dnjepr, in einem Bezirk, der nach dem Krieg entstanden war und keine Vergangenheit zu haben schien, nur eine saubere Zukunft. Es war aber niemand vergessen und nichts vergessen , wie die Dichterin Olga Bergholz im Gedenken an eine Million Opfer der Leningrader Blockade geschrieben hatte. Diese Zeile schloss man ins Herz, sie ersetzte die
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