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Video-Kid

Video-Kid

Titel: Video-Kid
Autoren: Bruce Sterling
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Nunchuck. Diese Waffe besteht aus zwei mäßig spitz zulaufenden, fünfundvierzig Zentimeter langen Stangen, die mit schwarzem, blutabweisendem Plastik überzogen sind. An den Spitzen sind sie über eine zwanzig Zentimeter lange kristallisierte Metallkette miteinander verbunden. Kid hält eine der Stangen in der Mitte und läßt die andere baumeln. Das massive Metall unter dem Plastik garantiert eine befriedigende Hiebkraft. Die Dehnbarkeit des Plastiküberzugs sorgt für beeindruckende Quetschwunden und verhindert das blutige Fleischzerhacken und Knochenzersplittern der normalen, nur aus Metall bestehenden Waffe. Oberster Grundsatz Kids ist die Ästhetik der Show. Das heißt, seine Gegner fallen betäubt, gelähmt oder entkräftet vor ihm auf den Boden. Mit der Ästhetik der Show ist es unvereinbar, dem Gegner Fleischbrocken aus dem Leib zu schlagen oder ihn sonstwie zu zerfetzen.
    Video-Kid bewegt sich geschmeidig. In jedem Augenblick kennt er die exakte Position aller seiner Körperteile. Der Nunchuck wirkt beim Gehen wie ein lebendes Wesen, doch gehorcht er Kids Willen aufgrund seiner achtundneunzigjährigen Praxis absolut. »Achtundneunzig Jahre, Kid?« höre ich mein Publikum fragen. »Sind das nicht wenigstens siebzig Jahre länger, als du lebst?« Das stimmt, und genau aus diesem Grunde bin ich auch Video-Kid.
    Zufällig habe ich die Minuten meiner »Geburt« auf Band. Professor Armbrust hat sie aufgezeichnet, der Tutor und Mentor meiner ersten zwanzig Lebensjahre. Eine Person, der ich zu tiefstem Dank verpflichtet bin. Das hat es sehr geschickt gemacht (Professor Armbrust ist ein Neutrum, deshalb spreche ich von ihm als »es«, wogegen es auch rein gar nichts einzuwenden hat), die Kamera direkt auf mein Gesicht zu richten. Während der ersten Minuten der Aufzeichnung sehen wir selbstverständlich, obwohl er keinen Mucks von sich gibt, auf Rominuald Tanglin, meine vormalige Persönlichkeit. Er ist zweihundertundeinundsiebzig Standardjahre alt und sieht keinen Tag jünger aus. Der Wahnsinn zeichnet sich in seinem Gesicht ab. Die Augen fahren rasch - wie ein zu heiß gewordenes, schwarzes Kugellager - hin und her. Spannung steckt in den dünnen, fahlgrauen Lippen. Tanglin steht kurz davor, geistigen Selbstmord zu begehen. Sein Haar ist schulterlang und unpassend im alten Stil gelockt. Ein halbes Dutzend rasierter Stellen befindet sich auf seinem Schädel, dort wo die Metallkontakte seine Kopfhaut berühren sollen. Die kahlen Stellen verleihen dem ganzen Vorgang eine besondere, behelfsmäßige Note.
    Die Maschine, die ihn ermorden wird, senkt sich von der Decke und streckt dabei sechs glitzernde Kontakte aus. Tanglin sagt noch immer nichts, nur sein Kehlkopf zuckt deutlich sichtbar. Die Kontakte berühren die Kopfhaut. Es kommt zu einer Entladung. Tanglin stirbt augenblicklich. Seine Augen schließen sich. Sein Gesicht sackt in völliger Entspannung zusammen. Das schmale Kinn fällt herab, und vom linken Mundwinkel löst sich ein Speichelfaden. Armbrusts Hand erscheint und wischt ihn mit einem Schwamm ab. Der Körper, im Augenblick ohne Persönlichkeit, sinkt im Stuhl zusammen. Aber transparente, kaum sichtbare Plastikstützen halten den Kopf hoch. Tränen bilden sich in den offengehaltenen Augenkanälen und rinnen über die breiten Wangen. Der Gedächtnislöscher hat seine Arbeit getan. Tanglins Geist ist fort, seine Persönlichkeit ausgemerzt. Die Maschine steigt zur Decke zurück. Rasch wischt Armbrust die Tränen fort und entfernt die Kopfstützen. Binnen Sekunden kehrt das Bewußtsein zurück. Ich bin geboren und hebe den Kopf.
    »Hallo«, sagt Armbrust freundlich. Verwundert hebe ich eine Hand und fahre mir damit über die kühle Feuchte auf der Wange. »Hallo«, sage auch ich und reibe mir mit zwei Fingern die Augen.
     
    ARMBRUST: Weißt du, wer du bist?
    SELBST: Ja. Ich bin R.T. (PAUSE) R.T. Video (ICH BEWEGE MEINEN MUND UND SCHMECKE DIE WORTE.)
    ARMBRUST: Und weißt du auch, wer ich bin.
    SELBST: Ja. Du bist mein Freund, Professor Armbrust. Und wir befinden uns in deinem Haus auf Träumerei.
    ARMBRUST: (MIT GRENZENLOSER FREUNDLICHKEIT) Sehr schön!
    (ICH STRAHLE ÜBER DAS GANZE GESICHT) Komm, wir wollen mal sehen, wie es mit dem Gehen klappt, Video, was? Ja, so ist's recht. (ICH ERHEBE MICH AUS DEM STUHL. OBWOHL ICH NEUGEBOREN BIN, HAT MEIN KÖRPER SEINE REFLEXE NICHT VERGESSEN. ICH LAUFE IM ZIMMER MIT DER VERWUNDERLICHEN SICHERHEIT UND BEWEGLICHKEIT AUF UND AB, DIE MAN NUR NACH JAHRHUNDERTELANGER
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