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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen
Autoren: Friedrich Ani
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gehabt.
    »Wir haben beide an einem Feiertag Geburtstag«, sagte Ariane Jennerfurt und nippte am Tomatensaft. Der Arzt hatte ihr erlaubt, ein paar Stunden das Haus zu verlassen. In den vergangenen drei Tagen war sie von mehreren Ärzten untersucht und behandelt worden. Sie trank Unmengen an Tee und wurde von Iris gezwungen, auf deren Couch liegen zu bleiben. In ihre eigene Wohnung wollte Ariane noch nicht zurück.
    Heute war Samstag. Sechster Januar. Heiligdreikönig.
    »Ja«, sagte Sonja, »ich hab mich nie in der Schule feiern lassen können.«
    Die beiden Frauen saßen nah am Eingang. Sie redeten nicht viel. Sie hörten sich die Musik an, die Iris auflegte, und öffneten gelegentlich die Tür, um frische Luft zu bekommen.
    Freya Epp tanzte mit ihrem korpulenten Kollegen Paul Weber, der sich mit riesigen weißblauen Taschentüchern den Schweiß abwischte.
    Tabor Süden und Martin Heuer lehnten am Tresen und tranken Bier. Iris stellte es ihnen ungefragt hin.
    »Du kannst also doch observieren, ohne dass du dich nach fünf Minuten ertappt fühlst. Sogar in der Nacht.«
    Süden blickte zu Sonja und Ariane.
    »Früher«, sagte Iris und nahm einen Zug aus der Zigarette, »hab ich gedacht, es gibt nur zwei Sorten von Männern. Solche vor und solche nach dem Orgasmus.«
    Heuer stieß mit seinem Glas gegen das seines Freundes.
    »Und zu welcher Sorte gehören wir?«, fragte er.
    Sie prosteten Iris zu. »Möge es nützen!«, sagte Heuer und trank.
    In der Ecke, unter dem Fernseher, saßen die beiden Bierfahrer und überlegten, ob es gut fürs Geschäft war, dass so viele Polizisten in dem Lokal verkehrten.
    Dann wechselte die Musik. Ariane stand mit von Schmerzen gezeichnetem Gesicht von ihrem Sessel auf.
    »Ich würd gern tanzen«, sagte sie zu Iris. Sie nahm ihre Freundin bei der Hand und führte sie um den Tresen herum und ließ sie nicht mehr los.
    Erst war es eng zwischen dem Tresen und den Tischen, dann machten die anderen Platz.
    »Klappt schon wieder«, sagte Iris, nachdem sie sich ein paar Mal vorsichtig im Kreis bewegt hatten. »Und wieso heulst du jetzt?«
    »Ich heul immer bei ›American Pie‹ von Madonna.«
    »Das Lied ist ja eigentlich von Don McLean«, sagte Iris.
    »Das weiß ich. Du sollst mich nicht belehren!«
    Madonna sang weiter. Tränen liefen über Arianes Gesicht.
    Dann endete der Song. Und sie hörte auf zu weinen und ließ sich erschöpft von Iris zu ihrem Sessel zurückbringen.
    Den ganzen Abend sprachen sie kein Wort über den Reporter.
    Ich verzeihe Niklas Schilff nicht. Ich verzeihe ihm nicht. Und das ist auch ganz ohne Bedeutung, wem ich verzeihe und wem nicht. Ich bin nicht Gott. Ich bin eine kranke Frau, die in einem anderen Leben ankommt.
    So wie du. Ohne mich würdest du noch nichts wissen von deiner Zukunft. Ach, Ben.
    Ob der Augenblick jetzt länger dauert, werden wir sehen, wenn er da ist. Zur Zeit ist alles Übergang.
    Iris erzählt mir vom Lokal, wir haben neue Stammgäste, und es sind nicht alles Alkoholiker. Am Wochenende hilft eine zweite Bedienung aus, dann kann Iris manchmal früher gehen, und wir essen zusammen hier in ihrer Wohnung. Von Dr. Forster hat sie sich einen Packen Unterlagen besorgt, sie liest mir vor, und ich muss ihr beipflichten.
    Der Schnee schmilzt. In diesem Jahr wäre es mir lieber, er würde noch bleiben. Die weißen Wiesen entlang der Isar, wo ich jeden Tag eine Stunde lang im Wind spazieren gehe, sind wie ein Spiegel für etwas, das in mir ist.
    Das ist, als könnte man die Stille sehen. So will ich werden: in tiefer Seele still. Sandra sagt, die Seele ist das Immunsystem.
    Das ist mir zu medizinisch. Wenn es still ist in mir, bin ich automatisch immun gegen alles, was mich stört. Und im Moment stört mich alles. Die Besuche beim Arzt, die Anrufe des Anwalts, den mir die Polizistin Sonja vermittelt hat, das Dasitzen und sogar das Reden mit Iris. Ich wache morgens auf. Und dann gibt es diese Sekunde, in der ich das Virus vergesse. Dann erinnere ich mich wieder. Und der Lärm beginnt.
    Dem Schnee habe ich es zu verdanken, dass ich mich nicht mehr aussätzig fühle. Mein Blut ist nicht mehr ekelig, und mit dem Tod will ich nichts zu tun haben. Gemeinsam mit einer Krähe am Hochufer habe ich beschlossen, dreiundneunzig zu werden, wir haben uns lange unterhalten ohne zu sprechen oder zu krächzen.
    Kann sein, normal zu sein wäre besser. Nein. Wie Papa gestorben ist, war nicht normal. Und wie Mama lebt, ist nicht normal, ich bin also geprägt.
    Ich fürchte
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