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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen
Autoren: Friedrich Ani
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Elsa ist auch ich. Wir haben nicht auf sie aufgepasst, Enzo nicht, Lissi nicht, ich nicht. Wir haben sie mit dem Kerl weggehen lassen und haben sie nicht beschützt. Du musst an dich denken, du lebst!
    Nein, ich leb nicht, ich tu nur so, du kannst mich nicht täuschen, Klara.
    Was hast du erwartet, als die Ärztin dir das Ergebnis mitgeteilt hat? Dass du gleich auf die Straße rennst und denkst: Jetzt erleb ich alles doppelt und intensiv und überhaupt wie noch nie? Dass du einen Bonus kriegst?
    Du hast nur deine Sprüche. Du hast selber erzählt, wie wunderbar das war in Italien und dass der Augenblick jetzt länger dauert und so Zeug. Das ist doch alles bloß Einbildung.
    Wenn du nicht mehr leben willst, dann bring dich doch um! Bring dich um und fertig.
    Das brauch ich nicht zu tun, ich lieg hier und warte, dass ich erfrier, das dauert nicht mehr lang. Und dann, Frau Klara Schlaumeier, dauert der Augenblick bestimmt nicht länger, der ist da und ist weg, und ich bins auch.
    Wenn ich in der Toskana bin mit meinem Sohn und meinem Mann, dann ist das real. Dann bin ich wirklich dort, dann seh ich und hör ich und schmeck ich was. Aber wenn ich von der Ärztin komm, die mir gerade gesagt hat, was los ist, dann bild ich mir was ein. Dann bild ich mir nämlich ein, ich krieg jetzt eine Intensität mitgeliefert und mit der wandele ich durch die letzten Jahre meines Lebens und begreife die Welt. Das ist Quark, trotzdem hab ich gedacht, dass es so ist, und ich schwörs, du hast es auch gedacht.
    Nein.
    Gibs zu, Jenny, du hast genau dasselbe Empfinden gehabt! Vielleicht.
    Gibs zu! Ja.
    Das ist nicht schlimm, irgendwann musst du in die Realität zurück, das ist wichtig, wichtig fürs Überleben. Von jetzt an wirst du weniger trinken, du gehst zum Sport, du meditierst, du machst eine Therapie, du kommst zu uns, du redest, du sorgst dich um dich und wir sorgen uns auch um dich.
    Ich bin nicht so wie du, ich bin ganz anders. Ich hab kein Kind, keinen Mann, ich hab eine depressive Mutter und einen toten Vater, ich hab mich hernehmen lassen wie eine Nutte, und was anderes bin ich nicht. Einmal Nutte, immer Nutte. Meine Mutter hat Recht.
    Du bist eine von uns. Schau dir Elfie an, glaubst du, die ist besser dran, nur weil sie keine Nutte ist?
    Ich hau dir gleich eine runter! Ich will, dass du endlich aufhörst, so mit mir zu reden! Hör zu, Jenny, ich bin heut anders, durch die Krankheit, ich weiß nicht, ob ich mich ohne die Krankheit so verändert hätte, ich glaube nicht. Früher hatte ich wahnsinnig Angst vor Menschen, ich hab viel getrunken, sonst hätte ich nicht in der Kneipe bleiben können bei den vielen Leuten, ich hab mich selber nicht ausgehalten. Und wenn ich dann was getrunken hab, dann war ich total verändert, dann hab ich mich nicht mehr gekannt, das war gut. Ich hab viel mit Männern rumgemacht, ich hatte viele Verhältnisse, ich bin ja auch schon lang auf der Welt, zweiundsechzig Jahre. Ich hab so gelebt, als hätte es die Krankheit nicht gegeben, sie war keine Gefahr für mich, ich war leichtsinnig. Mein Leben war früher überhaupt leichtsinnig. Heute habe ich mehr Realität.
    Auch ich hab Angst vor Menschen, das darf ich natürlich nicht zugeben, ich bin doch jetzt Wirtin.
    Gerade hast du es zugegeben. Bei euch. Bei uns.
    Ihr seid ja alles Frauen.
    Frauen sind auch Menschen, Baby.
    Du bist nicht auf den Mund gefallen, Klara.
    Ich bin schon auf alles Mögliche gefallen, auf den Mund noch nicht, das stimmt. Du wirst leben, Jenny, auch Kinder leben mit der Krankheit, sie nehmen Tabletten und gehen in die Schule und zum Tanzen, sie flirten und später vögeln sie schön.
    Kinder sind nicht schuld, ich schon. Ich hab die Krankheit nicht geerbt, ich hab sie mir freiwillig geholt, ich hab mich freiwillig ausgezogen, ich hab alles freiwillig mit mir machen lassen. Mir ist kalt, nur im Gesicht. Mein Gesicht wird auch nicht schön aussehen, entschuldige, Iris, es wird aussehen wie ein schwarzer Mond. Ich bin nämlich ganz dunkel in mir, und wenn ich sterbe, steigt das Dunkel wie eine Flut und sammelt sich in meinem Gesicht. Und erst im Grab vermischt sich alles Dunkel dann.
    Jetzt ist mir schon weniger kalt. Habt ihr gewusst, dass der Beo auch im Dunkeln singen kann? Und er geht nie ans Telefon.
    Steht in dem Buch des persischen Dichters, das ich immer bei mir trage. Es ist im Mantel, ich schenke es Iris. Ein paar Mal habe ich daraus vorgelesen, sie war nicht so begeistert, vielleicht habe ich schlecht gelesen, ich bin
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