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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen
Autoren: Friedrich Ani
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dunkel hier. Es war vorher auch dunkel, nur das Licht im Flur war an, wo sein Koffer stand. Hier im Zimmer hatte ich kein Licht angemacht. Das Licht der Straßenlampe schien herein, wie immer. Ich weiß nicht, warum ich die Schreibtischlampe nicht angemacht habe. Das war ja riskant, mit einem Fremden in die Wohnung zu gehen, und dann ist es auch noch finster. Ich war betrunken. Ich war ja so betrunken.
    Nicht jetzt wieder! Ich könnte grünen Tee trinken. Nein, ich mag nicht aufstehen, besser hier sitzen und schreiben. Gemein ist das, weil Iris heute allein im Laden ist. Ich habe sie angelogen. Aber sie schafft das. Anders war es nicht möglich. Ich würde mich ja selber anlügen, wenn ichs könnte. Aber das geht nicht, verflucht.
    Ich darf nicht dauernd fluchen. Ich darf mich nicht in so eine Stimmung bringen, da bin ich verloren. Dann fange ich wieder an zu trinken. Das war immer schon so: Wenn ich mies drauf bin und was trinke, dann bin ich hinterher dreimal so mies drauf. Und wenns mir gut geht, und ich trinke, dann fühle ich mich dreimal so gut. Und das ist dann auch Unsinn.
    Ich hätte gern ein Gleichgewicht im Leben. Das habe ich mir immer gewünscht, so sein wie andere, die dastehen und nicht bei jedem Windhauch oder wenns mal ruckelt umfallen. Diese Leute haben eine Balance, und ich habe keine. Und ich werde vielleicht nie wieder eine Balance haben.
    Gestern Abend, in dem scheußlichen Bistro, habe ich gedacht, jetzt gehe ich zum Telefon und rufe meine Mutter an. So weit war ich! Seit zwei Jahren habe ich nicht mehr mit ihr gesprochen. Nicht mehr, seit ich ihr erzählt habe, dass ich mit Iris das Lokal eröffne. Das hat sie einen Dreck interessiert. Sie hat gedacht, im Hinterzimmer wird gefickt. Da habe ich sie so gehasst, und ich hasse sie immer noch. Aber gestern war ich fast so weit sie anzurufen und ihr zu sagen, was passiert ist.
    Wenn der Typ nicht plötzlich dagestanden hätte, hätte ichs womöglich getan. Ich hätte sie angerufen, ich hätte ihr alles erzählt. Der Typ hat mich gerettet. Der hat mich vor diesem Dummtum bewahrt. Niemals, das schwöre ich hiermit hoch und heilig, niemals werde ich ihr erzählen, was passiert ist, auch nicht, wenn ich weder ein noch aus weiß. Niemals.
    Mir ist schlecht. Ich kann nicht weiterschreiben, ich trinke erst was. Nein, ich trinke nichts. Es war falsch, heute nicht zu arbeiten, blöd war das. Aber jetzt kann ich nicht mehr ins Lokal gehen. Ich muss was machen. Was? Schon wieder die Sirene des Sankas draußen, ich kann das nicht mehr hören. Iris sagt immer, wer neben einem Krankenhaus wohnt, der bleibt gesund. Stimmt gar nicht.
    Stimmt ja gar nicht.
    Er saß da. Und tat nichts. Er war allein in dem Zimmer mit den Computern und den Telefonen und niedrigen Aktenschränken und Grünpflanzen. Zwei Schreibtischlampen brannten. Sonst kein Licht. Er hatte die Hände flach auf den Tisch gelegt. Und horchte mit geschlossenen Augen auf das Rauschen von der Straße.
    Für eine Schallisolierung der Fenster fehlte das Geld. Er machte die Augen auf. Wieso musste er jetzt daran denken? Ist das wichtig?
    Und doch stritten sie jeden Sommer darüber, wieso es ihrem Chef nicht gelang, einen Antrag ans Ministerium zu stellen, in dem er ein für alle Mal auf einem Umbau bestand. Andernfalls müssten sie sich neue Räume suchen, da Dienstbesprechungen oder Vernehmungen bei offenen Fenstern wegen des Krachs unmöglich waren, genauso in der stickigen Luft an heißen Tagen.
    Jetzt war November. Aber es war warm hier. Und still. Abgesehen von den gedämpften Geräuschen der Autos und Straßenbahnen vor dem Hauptbahnhof.
    Wenn alles so blieb, war die Nacht kein Problem.
    Er ahnte, dass es so nicht bleiben würde. Bis etwas passierte, wollte er nur dasitzen. An nichts Wichtiges denken. Kaffee trinken. Ein wenig summen. Und gelegentlich lächeln wegen Sonja.
    Im Laufe dieses Samstags waren bisher drei Jugendliche und ein erwachsener Mann als vermisst gemeldet worden. Für die Kommissare der Vermisstenstelle kein Grund zur Sorge. Die Jugendlichen, drei Mädchen aus einer Trabantenstadt, waren Dauerläufer. Was bedeutete, sie verschwanden ungefähr jeden dritten Monat und kehrten nach einem weiteren Monat zurück.
    Unversehrt und missmutig. Obwohl die Polizei den Eltern jedesmal erklärte, dass eine Suche sinnlos sei, bestanden diese auf einer Anzeige.
    Was den Mann betraf, den seine Lebensgefährtin heute Morgen als vermisst gemeldet hatte, ein Maler und Kleingalerist, so zog er
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