Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
nicht bewegen? Wer spricht zu mir? Haben Sie meinen Vater gesehen? Bitte, nur einen Schluck. Ich schreib das auch nicht, was Sie mir gerade erzählt haben! Ich schreib das nicht, bitte, nur einen Schluck. Nie wieder Wüste! Ich spucke Sand. Meine Kleidung ist klitschnass. Von Schweiß. In meinem Nacken steckt ein Messer.
    Das ist ein merkwürdiges Licht. Gefiltertes Licht. Ein gelber Filter. Wer macht das? Ich bin ein Weichei. Ich steh jetzt auf. Ich brauche keine Hilfe. So gehts. Ich steh schon. Ich halte mich am Fensterbrett fest. So gehts. Was machst du da?
    Mit dieser Frage synchronisierte er den stummen Schrecken.
    Niklas, beeil dich, deiner Mutter ist was passiert, sie hatte einen Unfall! Komm schnell! Er hörte seinen Vater aus dem stinkenden Teppich sprechen. Seinen Vater, mit dem er dann drei Jahre allein war. Die drei Jahre, die er brauchte, um sich zu ermutigen. Sein Vater.
    Flach kriechend hatte Schilff den Tisch erreicht. Er sah nichts.
    Er schnupperte. Und keuchte. Und stieß mit der Stirn gegen das Tischbein. Und sein Kopf sackte auf den Boden.
    Aus dem Boden dampfte der Schrecken jenes Nachmittags.
    Was machst du da? Und es knarzte. Und der Wind war sein Vater. Der hing an einem Seil vom Treppengeländer im ersten Stock. Und bewegte sich sacht. Schwer zu sagen, sagte der Polizist. Hat vermutlich das verkehrte Zeug weggeworfen, er musste ja immer alles wegwerfen. Hatte vermutlich einen Sauberkeitsfimmel, unser Papa Mud. Hat denen ihr Crack einfach in einen Müllsack gesteckt, das mögen die nicht. Und die Tatwaffe? Die Tatwaffe, ein Messer, sagt der Polizist, ein Latinoamerikaner, sehr gelassen: Ein Messer, ganz klar. Aber wir haben es nicht, sie haben es behalten, die Crack-Leute, die waren sauer, kann man verstehen. Papa Mud lag da in seinem Blut.
    Schilff schrieb die Story. Fünf deutschsprachige Illustrierte kauften sie ihm ab. Starke Geschichte, sagte Max, der sie nicht gekauft hatte, weil sie nicht in sein Magazin passte. Er las sie und rief sofort an und bestellte was Neues. Ist doch nicht schwer darüber zu schreiben, Niklas, schreib doch mal was über dich, du bist jetzt selber ein Star, du bist interessant für die Leute, das ist doch spannend, wie du aufgewachsen bist, was mit deinen Eltern passiert ist, dein Vater, der heimlich gedichtet hat, wie du zum Reporter geworden bist. Denkst du, ich bin Reporter geworden, weil meine Eltern tot sind? Weil meine Jugend so war, wie sie war? Das ist doch idiotisch! Ist es nicht, sagt Max, du hast eine besondere Vergangenheit, mach was draus!
    Hab nichts draus gemacht. Hab Zeilengeld verdient. Dann bin ich abgehauen. Hab dich nicht ausgeschlachtet, Vater. Und dich auch nicht, Mama. Ich bin abgehauen.
    Ich krieg keine Luft. Ich muss zur Tür. Draußen scheint die Sonne. Hier stinkts. Ich muss zur Tür. Ich muss zur Tür. Und dann häng ich… Ich häng dann…
    Die Frau, ich häng die Frau an genau dieselbe Stelle. Und dann knarzt es. Als ob der Wind einen schweren Ast biegt. Und dann häng ich mich daneben. Platz ist genug. Das wird ein Stereogeknarze geben! Ich habs so satt. Mir ist kalt. Das Bett ist da hinten. Am anderen Ende. Hast du dich verlaufen, Großer? Was? Suchst du jemanden? Nein. Wo willst du denn hin? Er wusste, was die Stimme sagte. Aber er hörte sie nicht. Er sah auch niemand. Er ist auf dem Weg zur Schule. Sonderbar. Denn er ist erst fünf. Er geht noch nicht in die Schule. Und sogar wenn er sechs oder sieben wäre, würde er nicht hier in die Schule gehen, sondern in der Kleinstadt. Fürs Gymnasium bin ich viel zu jung, denkt er und dreht sich um. Und das Meer fächelt weiße Wellen über seine nackten Füße.
    Sie ging mit ihm mit. Das machte sie manchmal. Enzo hat es ihr erlaubt. Und normalerweise fuhr er ihr hinterher und passte auf. In solchen Dingen war er der Beste. Er hat sich fast gesorgt um uns. An diesem Abend hatte er Besuch von einer ehemaligen Schulfreundin und viel getrunken. Was selten bei ihm vorkam. Also zog Elsa allein los. Und kam nicht wieder. Ein Spaziergänger hat sie gefunden. Wir waren alle in der Gerichtsmedizin. Wir wollten sie noch einmal sehen. Es heißt immer, die Toten haben ein schönes Gesicht, als würden sie nur schlafen. Das stimmt nicht. Elsa sah erbärmlich aus. Sie war geschminkt, aber wir konnten die Stiche erkennen. Der Kerl hat ihr ja ins Gesicht gestochen. Mitten ins Gesicht, bevor er sie erwürgt hat. Das kann kein Kosmetiker vertuschen.
    Denk nicht mehr dran, Jenny, du musst an dich denken!
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher