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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen
Autoren: Friedrich Ani
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Und er fürchtet sich. Jeden Moment soll der Vorhang aufgehen. Und dann sieht er zum ersten Mal seine Mutter auf der Bühne. Das Theater hat hundertein Plätze. Hat ihm sein Vater erzählt.
    Der sitzt neben ihm und versteckt beide Daumen in den Fäusten, was Niklas noch nie gesehen hat. Der Vorhang geht nicht auf. Jemand verbindet ihm die Augen. Er hört ein Klirren. Und das Schnauben von Pferden. Sein Nacken wird von einer Hand umklammert.
    Trotz der Augenbinde kann er alles sehen. Die Waffen. Die Männer mit den harten Gesichtern. Die Obstkisten. Hier treffen sich die Schmuggler. Hier wird das Kokain an die Unterhändler verteilt. Und das Geld. Und der Alkohol. Und manchmal tauchen Frauen auf und fangen ein neues Leben an.
    Seit er ins Gymnasium geht, wohnt er fast ständig bei seiner Mutter in der Stadt. Sein Vater arbeitet in der Holzfabrik und übernachtet in dem Haus am Waldrand. Am Wochenende kommt er in die Stadt. Und wenn Mama nicht auftritt, fahren wir alle aufs Land. Wem erzählt er das? Da ist jemand. Aber er kann ihn nicht sehen. Er hebt den Kopf. Im Zimmer ist es hell.
    Weißes Licht an der Decke. Er ist eingeschlafen. Er springt von der Liege. Lautlos. Das Bett ist leer. Das Bett, in dem seine Mama lag. Haben Sie meine Mama gesehen?, fragt er einen jungen Mann in einem grünen Kittel. Nein, sagt der junge Mann, die ist doch im Theater. Warum lügt der? Mama ist nicht im Theater. Die ist auf dem Nordfriedhof.
    Wie wärs, wenn du einfach hingehst auf die Premierenfeier und schreibst, was du siehst. Schleich dich da rein, tricks sie alle aus, das schaffst du! Okay, Max.
    Nach der Buchvorstellung in Berlin wollen sogar Kollegen Autogramme. Und stellen Fragen. Dauernd Fragen. Er beantwortet sie alle. Und Max präsentiert die neueste Ausgabe seines Magazins, mit einem Hinweis auf das Interview mit Harvey Keitel auf dem Cover. Ein Exklusivinterview, sagt Max in die Mikrofone. Eine Reporterin fragt, wie Schilff es immer schaffe, die Leute so privat zum Reden zu bringen. Und Schilff sagt: Indem ich ihnen zuhöre und keine blöden Fragen stelle, die sie schon hundertmal nicht beantwortet haben. Jetzt muss er lachen. Aber er lacht nicht. Kein Ton. Er schwitzt. Die Scheinwerfer tauchen ihn in heißes Licht. Er liest aus dem Buch. Frage und Antwort, dazwischen Beschreibungen der Situation, der Kleidung der Stars. Seine eigenen Gewohnheiten. Zigarette in den Mund stecken. Warten. Dann erst anzünden. Schilff ist ein Autor, kein Journalist, lügt Max. Im Gedränge schieben sie sich nach nebenan, ins Restaurant. Krachend schlägt er mit dem Kopf gegen eine Glastür. Die hat er übersehen.
    Das war kein Glas. Das war Holz. Lackiertes Holz. Mit einer wirren Bewegung stützte er sich am Bettrand ab. Konnte sich nicht festhalten und schlug mit dem Kinn auf der Kante auf. Als habe ein glühender Schürhaken seinen Unterkiefer durchbohrt, stieß er einen Schrei aus. Der klang in seinen Ohren dumpf und fern. Weil er sich aufrichtete und bemerkte, wie eine der Decken langsam rutschte, griff er nach ihr. Versuchte sich festzuhalten. Wie an einem Geländer. Und verlor die Balance.
    Kopf voran, ein hämmerndes Eisentrumm auf seinen Schultern, kippte er mit dem Rest des Körpers eine zehn Zentimeter tiefe Schlucht hinunter.
    Der Teppich dämpfte den Aufprall nicht. Ich bin nicht bewusstlos. Ich bin nicht die Treppe hinuntergefallen. Ich bin die Treppe nicht hinaufgegangen und dann hinuntergefallen.
    Nein. Ich liege bloß am Boden. Auf dem Teppich. Nein. Auf den Dielen.
    Da war dieses Knarzen. Einen Augenblick lang. Als ob der Wind einen schweren Ast bewegt, und der knarzt dann. Das war vorher.
    Wann genau? Ich steh jetzt auf. Ich kann nicht aufstehen. Dann krieche ich zur Tür. Zieh mich an der Klinke hoch.
    Und öffne die Tür. Ich öffne die Tür. Und die Sonne scheint herein.
    Mama sitzt im Liegestuhl und lernt Text. Das ist unmöglich. Sie ist seit drei Jahren tot. Da ist kein Garten. Ich bin hier falsch.
    Der Teppich stinkt. Ich muss gleich kotzen. Jetzt ist der Teppich weg. Ich liege auf den Dielen, unten, im Durchgang zur Küche.
    Da! Wieder dieses Knarzen. Der Wind. Die Tür ist zu. Die Fenster sind zu. Und im Haus weht kein Wind. Außer wenn ich rülpse. Haha. Ich kann mich nicht bewegen.
    Wie lange liege ich schon hier? Ich bin nicht in Mamas Wohnung in der Stadt. Ich bin in unserem Haus in Bad Reding. Der Polizist. Die zwei Polizisten waren hier, bevor der Arzt kam. Er hat mich untersucht. Wieso kann ich meinen Körper
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