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Verwesung

Verwesung

Titel: Verwesung
Autoren: Simon Beckett
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um das Rechteck aus dunklem Torf gelegt, das mit einem Fadengitter überzogen war. Jemand, wahrscheinlich ein Kriminaltechniker, kniete davor, ein großer Mann, der seine in Latexhandschuhen steckenden Hände in die Luft hielt wie ein Chirurg bei einer Operation. Direkt vor ihm war ein schmutziger Gegenstand in der torfigen Erde zu sehen. Auf den ersten Blick hätte man ihn für einen Stein oder eine Wurzelknolle halten können. Bis man genauer hinschaute.
    Aus dem feuchten Boden ragte eine halbverweste, noch mit Hautfetzen bedeckte Hand.
    «Sie haben leider den Gerichtsmediziner verpasst, aber er kommt zurück, sobald die Leiche geborgen wird», sagte Simms und lenkte meine Aufmerksamkeit weg vom Grab. «Dr.   Hunter, dies ist Professor Wainwright, der forensische Archäologe, der die Ausgrabung leiten wird. Sie werden bestimmt von ihm gehört haben.»
    Jetzt betrachtete ich den vor dem Grab knienden Mann genauer.
Wainwright?
Mir wurde flau im Magen. Natürlich hatte ich schon von ihm gehört. Leonard Wainwright, ein ehemaliger Professor aus Cambridge, arbeitete mittlerweile als Berater für die Polizei und war einer der berühmtesten forensischen Experten des Landes. Eine bedeutende Persönlichkeit, sein Name verlieh einer Ermittlung sofort Glaubwürdigkeit. Doch hinter dem kultivierten öffentlichen Image hatte Wainwright den Ruf, äußerst rüde mit jedem umzugehen, den er als Rivalen betrachtete. Er war ein scharfer Kritiker der von ihm so genannten «modischen forensischen Wissenschaften», womit er so ziemlich jeden Fachbereich meinte, der nicht sein eigener war. Ein Großteil seiner Abneigung konzentrierte sich auf die forensische Anthropologie, ein recht neuer wissenschaftlicher Zweig, der sich in mancher Hinsicht mit seinem Feld überschnitt. Erst im vergangenen Jahr hatte er in einem Wissenschaftsmagazin einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Vorstellung ins Lächerliche zog, dass man über den Grad der Verwesung verlässliche Aufschlüsse über den Todeszeitpunkt erhalten konnte. «Alles faul?» hatte der Titel gelautet. Ich hatte den Text eher amüsiert als verärgert gelesen.
    Aber da hatte ich noch nicht gewusst, dass ich einmal mit ihm würde zusammenarbeiten müssen.
    Wainwright stemmte sich mit knackenden Knien hoch.Er war ungefähr sechzig, eine Riese von einem Mann, in einem schlammverschmierten, sich über seinen ausladenden Körper spannenden Overall. Seine Finger in den weißen Latexhandschuhen ähnelten dicken Würsten, als er sich die Maske abzog. Darunter kam ein knorriges Gesicht zum Vorschein, das man mit viel Nachsicht aristokratisch hätte nennen können.
    Er schenkte mir ein eher neutrales Lächeln. «Dr.   Hunter. Ich bin mir sicher, es wird eine Freude sein, mit Ihnen zusammenzuarbeiten», sagte er mit dem sonoren Bariton eines geübten Redners. Ich rang mir selbst ein Lächeln ab. «Ebenso.»
    «Das Grab ist gestern Nachmittag von ein paar Wanderern entdeckt worden», sagte Simms mit einem Blick auf die Hand, die aus der Erde ragte. «Es ist nicht tief, wie Sie sehen können. Wir haben den Boden untersucht. Offenbar befindet sich knapp einen halben Meter unter der Oberfläche eine Granitschicht. Also eigentlich kein geeigneter Ort, um eine Leiche zu vergraben, doch zum Glück wusste der Mörder das nicht.»
    Ich kniete mich hin, um mir die dunkle Erde näher anzuschauen, in der die Hand steckte. «Der Torf wird die Sache interessant machen.»
    Wainwright nickte zurückhaltend, sagte aber nichts. Als Archäologe war er bestimmt vertraut mit den Problemen, die sich durch ein Grab im Torf ergaben.
    «Sieht so aus, als hätte der Regen die obere Erdschicht weggespült und die Hand freigelegt, den Rest haben dann Tiere übernommen», fuhr Simms fort. «Leider wussten die Wanderer zuerst nicht, was es ist, und haben etwas Erde weggeschaufelt, um sich zu vergewissern.»
    «Herr, bewahre uns vor Amateuren», stieß Wainwright hervor. Vielleicht war es Zufall, dass er dabei gerade mich anschaute.
    Ich kniete mich auf eine der Metallplatten, um die Hand zu untersuchen. Sie war ab dem Handwurzelknochen freigelegt. Der größte Teil des Gewebes war abgenagt, und die ersten beiden Finger, die wohl am weitesten herausgeragt hatten, fehlten vollständig. Aber das war nicht anders zu erwarten gewesen. Aasfresser wie Füchse oder selbst größere Vögel wie Krähen oder Möwen waren in der Lage, sie abzutrennen.
    Was mich allerdings interessierte, war die Tatsache, dass die Stümpfe der
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