Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verwesung

Verwesung

Titel: Verwesung
Autoren: Simon Beckett
Vom Netzwerk:
den leicht flatternden blauen Wänden. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ich zum Zuschauer degradiert worden wäre, doch unerwarteterweise nahm er meine Hilfe bei der Ausgrabung gerne in Anspruch. Sobald ich die vorherige Kränkung überwunden hatte, musste ich anerkennen, dass er ein wirklich guter forensischer Archäologe war. Mit seinen großen Händen agierte er geschickt und präzise wie ein Chirurg, während er vorsichtig den feuchten Torf wegkratzte, um die vergrabenen Überreste freizulegen. Wir arbeiteten Seite an Seite, beide auf den Metallplatten am Rande des Grabes kniend, und als die Leiche allmählich aus der dunklen Erde auftauchte, hatte ich meinen ersten Eindruck von dem Mann revidiert.
    Wir hatten seit einer Weile schweigend gearbeitet, als er mit seiner Kelle zwei Hälften eines durch einen Spaten geteilten Regenwurms aufhob. «Bemerkenswerte Tiere, nicht wahr?
Lumbricus terrestris.
Ein simpler Organismus, ohne Gehirn und ohne ein nennenswertes Nervensystem. Trotzdem wachsen sie weiter, wenn man sie in zwei Hälften teilt. Das sollte uns eine Lehre sein: Je komplizierter man ist, desto mehr schwebt man in Lebensgefahr.»
    Er warf den Wurm ins Heidekraut, legte seine Kelle ab und zuckte zusammen, als seine Knie laut knackten. «Diese Arbeit wird im Alter nicht gerade leichter. Aber was wird im Alter schon leichter? Na ja, Sie sind noch zu jung, um das zu wissen. Sie sind aus London, richtig?»
    «Ich wohne dort, ja. Und Sie?»
    «Ich bin aus der Gegend. Torbay. Zum Glück nicht weit von hier, ich muss also nicht in einer der verlausten Absteigen übernachten, wo man normalerweise von der Polizei untergebracht wird. Ich beneide Sie nicht.» Er rieb sich den Steiß. «Und, wie finden Sie Dartmoor bisher?»
    «Trostlos, nach allem, was ich bisher gesehen habe.»
    «Na ja, aber für einen Archäologen das Gelobte Land. Hier gibt es die größte Konzentration an Überresten aus dem Bronzezeitalter von ganz Großbritannien, das gesamte Moor ist im Grunde ein Museum der industriellen Entwicklung. Hier kann man noch beinahe unversehrte alte Blei- oder Zinnminen finden, konserviert wie Fliegen in Bernstein. Wunderbar! Jedenfalls für alte Dinosaurier wie mich. Sind Sie verheiratet?»
    Es fiel mir schwer, ihm zu folgen. «Ja, bin ich.»
    «Vernünftig. Eine gute Frau hält uns geistig gesund. Wie sie es mit uns aushalten, verstehe, wer will. Meine Frau verdient einen Orden, woran sie mich auch immer wieder erinnert.» Er kicherte. «Kinder?»
    «Ein kleines Mädchen, Alice. Sie ist fünf.»
    «Aha. Schönes Alter. Ich habe zwei Töchter, aber die sind beide schon flügge. Glauben Sie mir, in zehn Jahren werden Sie sich fragen, was bloß aus Ihrem kleinen Mädchen geworden ist.»
    Ich lächelte pflichtbewusst. «Bis sie in die Pubertät kommt, haben wir noch eine Weile.»
    «Genießen Sie die Zeit. Darf ich Ihnen einen Tipp geben?»
    «Bitte.» Wainwright schien tatsächlich ganz anders zu sein, als ich gedacht hatte.
    «Nehmen Sie Ihre Arbeit niemals mit nach Hause. Das meine ich natürlich im übertragenen Sinne. Aber in unserem Beruf ist es wichtig, Arbeit und Freizeit strikt zu trennen, besonders wenn man Familie hat. Sonst macht es Sie fertig. Was auch immer Sie sehen, egal wie entsetzlich es ist, denken Sie immer daran, dass es nur ein Job ist.»
    Er nahm wieder seine Kelle und widmete sich den Überresten.
    «Ich habe neulich mit jemandem gesprochen, der Sie kennt. Stimmt es, dass Sie eigentlich Medizin studiert haben?»
    «Ja, ich habe meinen Abschluss in Medizin gemacht, bevor ich zur Anthropologie gewechselt bin. Wer hat Ihnen das erzählt?»
    Er runzelte die Stirn. «Ich habe mir schon das Gehirn zermartert, aber mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es mal war. Ich glaube, es war bei irgendeiner forensischen Konferenz. Wir sprachen über die neue Generation, die sich auf dem Gebiet behauptet, und dabei fiel Ihr Name.»
    Es überraschte mich, dass Wainwright zugab, schon von mir gehört zu haben. Ob ich wollte oder nicht, ich fühlte mich geschmeichelt.
    «Ein ganz schöner Sprung, von der Medizin zur Anthropologie», fuhr er fort, während er einen Ellbogen freilegte. «Ich habe gehört, Sie sind in den Vereinigten Staaten ausgebildet worden. An dieser Forschungseinrichtung in Tennessee, richtig? Die sich auf Verwesungsprozesse spezialisiert hat.»
    «Das anthropologische Forschungsinstitut. Ich war ein Jahr dort.»
    Damals kannte ich Kara noch nicht, ich hatte gerade denFachbereich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher