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Verwesung

Verwesung

Titel: Verwesung
Autoren: Simon Beckett
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gewechselt und den Dienst an den Lebenden für die Arbeit mit den Toten eingetauscht. Ich wartete auf kritische Bemerkungen, doch es kamen keine. «Hört sich interessant an. Allerdings nicht für mich, glaube ich. Ich bin kein großer Freund von
Calliphoridae
. Ekelhafte Viecher.»
    «Ich bin auch kein großer Freund von ihnen, aber sie haben ihren Nutzen.»
Calliphoridae
nennt man die Familie der Schmeißfliegen, deren Lebenszyklus sehr hilfreich bei der Bestimmung des Verwesungsgrades ist. Wainwright war offenbar ein Freund lateinischer Namen.
    «Das glaube ich gern. Aber leider nicht in diesem Fall. Es ist entschieden zu kalt.» Er deutete mit seiner Kelle auf die Überreste. «Und, was halten Sie davon?»
    «Ich werde mehr wissen, sobald die Leiche in der Gerichtsmedizin ist.»
    «Selbstverständlich. Aber Sie haben doch bestimmt schon ein paar Schlüsse gezogen.»
    Hinter der Schutzmaske konnte ich ihn lächeln sehen. Ich wollte mich nur ungern äußern, wusste ich doch nur zu gut, wie leicht sich die Einschätzungen ändern können, nachdem die Überreste gereinigt sind. Andererseits war Wainwright keinesfalls das Scheusal, das ich erwartet hatte, und wir waren allein. Angesichts seiner bekannten Abneigung gegen die forensische Anthropologie konnte es nicht schaden, ihm zu zeigen, dass er nicht der einzige Experte vor Ort war.
    Ich hockte mich auf die Fersen und betrachtete, was wir freigelegt hatten.
    Torf ist eine außergewöhnliche Substanz. Sie besteht zum Teil aus vermoderten Pflanzen und den Überresten von Tieren und Insekten, aber die meisten Bakterien und Insekten, die normalerweise die Erde unter unseren Füßen bevölkern,können darin nicht existieren. Da Torf einen geringen Sauerstoffanteil hat und so säurehaltig ist wie Essig, werden Organismen darin regelrecht eingelegt und wie Proben in einem Reagenzglas konserviert. In Torfmooren sind nicht nur ganze Mammutstoßzähne gefunden worden, sondern auch unheimlich wirkende unversehrte menschliche Leichen, die vor Hunderten von Jahren vergraben wurden. Die Leiche eines Mannes, die 1950 in dem Dorf Tollung in Dänemark entdeckt worden ist, war so gut konserviert, dass er für ein Mordopfer gehalten wurde. Was der Mann angesichts des Seils, das um seinen Hals gebunden war, wahrscheinlich auch war, allerdings hatte man ihn vor über zweitausend Jahren umgebracht.
    Aber die Merkmale, die Torf zu einer archäologischen Goldmine machen, können gleichzeitig zu einem forensischen Albtraum werden. Die Bestimmung des genauen Todeszeitpunktes ist immer schwierig, aber ohne die natürlichen Hinweise, die man durch die Verwesung erhält, kann sie völlig unmöglich werden.
    Doch in diesem Fall würde es solche Probleme meiner Meinung nach nicht geben. Ungefähr die Hälfte der Leiche war mittlerweile freigelegt. Sie lag mehr oder weniger auf der Seite, die Knie waren etwas angezogen, und der Leib war in der Fötusstellung zusammengekrümmt. Sowohl das dünne Oberteil, das am Torso hing und durch das man den Umriss eines Büstenhalters sehen konnte, als auch der kurze Rock waren aus einem synthetischen Material und vom Stil her zeitgenössisch. Und auch wenn ich nicht behaupten konnte, ein Modeexperte zu sein, sah der hochhackige Schuh des nun ausgegrabenen rechten Fußes für mich recht modern aus.
    Obwohl die gesamte Leiche   – Haar, Haut und Kleidung – mit einer klebrigen, dunklen Torfkruste überzogen war, konnte nichts die Verletzungen verbergen, die ihr zugefügt worden waren. Unter dem verschmutzen Stoff waren deutlich die Umrisse von gebrochenen Rippen zu sehen, durch die Haut der Arme und der Unterschenkel ragten zerklüftete Knochen hervor. Der Schädel unter dem verfilzten Haar war eingeschlagen und verformt, die Wangen und die Nasenhöhle waren eingefallen.
    «Noch nicht viele, abgesehen von den offensichtlichen», sagte ich vorsichtig.
    «Und die wären?»
    Ich zuckte mit den Achseln. «Weiblich, obwohl man wahrscheinlich Transsexualität nicht völlig ausschließen kann.»
    Wainwright schnaubte. «Gott bewahre. Zu meiner Zeit hätte man nicht mal im Traum an so was gedacht. Wann ist bloß alles so kompliziert geworden? Fahren Sie fort.»
    Ich begann langsam warm zu werden. «Noch kann man schwer sagen, wie lange sie schon vergraben ist. Die Verwesung ist bereits fortgeschritten, aber das erklärt sich wahrscheinlich dadurch, dass die Leiche nicht besonders tief vergraben war.»
    Bei der Nähe zur Oberfläche könnten Luftbakterien das Gewebe
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