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Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)

Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Du hast eigentlich gar nichts mehr unter Kontrolle.
    Dahinter erscheint die DIN-A4-große Tür eines Wandsafes. Wie hatte sie triumphiert, als sie vor wenigen Tagen das Zahlenschloss geknackt hatte. Es war so einfach gewesen. Gleich der erste Versuch hatte geklappt: 2603. Der sechsundzwanzigste März, sein Geburtsdatum. Alte Menschen sind vergesslich. Fast alle wählen eine Kombination, die sie nicht mühsam lernen müssen.
    Langsam lässt sie die Hand in ihre Kitteltasche gleiten. Ihre Finger umschließen das kühle Metall. Ein schwerer Schlüssel mit einem handtellergroßen Anhänger aus Messing.
    Ein Schlüssel ohne Schloss, hatte er ihr gesagt, als sie ihm geholfen hatte, seine Koffer auszupacken. Wie lange war das her? Zwei Jahre? Kurz nach seiner Ankunft, als er noch gelegentlich in den Park gegangen war, mit den anderen im Speisesaal gegessen und die Konzerte besucht hatte, die im Theatersaal geboten wurden. Sie erinnerte sich an ihn als einen Herrn, einen dżentelmen .
    Sie hatte ihn in sein Zimmer gebracht, wo die wenigen Möbel, die er aufstellen durfte, bereits angekommen waren. Das Chippendale-Bett, die Mahagoni-Kommode, der Kleiderschrank. Schweigend, mit langsamen Schritten, gestützt von seinem Gehstock mit dem silbernen Griff war er zum Fenster gegangen und hatte hinausgesehen.
    »Wie lange dauert es im Durchschnitt?«
    Sie konnte noch nicht so gut Deutsch damals, aber sie wusste, was er meinte. Jeder hatte diesen Gedanken, wenn er sein letztes Domizil betrat.
    »Ein Jahr? Zwei Jahre?«, fragte er, ohne mit einer Antwort zu rechnen. »Bis mein Nachmieter einzieht.«
    Sie hatte nur stumm mit den Schultern gezuckt und sich dem Koffer gewidmet. Die Anzüge aufgehängt. Die Unterwäsche ins Fach gelegt. Den Kulturbeutel ins Bad gebracht. Das Foto auf dem Nachttisch aufgestellt. Es war alt, schwarzweiß, und es zeigte ein Hochzeitspaar, im Hintergrund ein prächtiges Herrenhaus.
    »Das sein Sie?«, hatte sie gefragt. »Und Gattin?«
    Er hatte sich zu ihr umgedreht. Ein schmaler Mann mit gebeugtem Rücken, einst wohl kräftig und groß, geschrumpft durch Alter und Krankheit. Die buschigen, dichten Haare waren ihm geblieben. Stahlgrau, von einigen dunklen Strähnen durchzogen. Gut gekleidet, wohlhabend und zitternd am Ende seines Weges. Die müden, rotgeränderten Augen mit den herabgezogenen Unterlidern und den schweren Tränensäcken blieben an dem Bild hängen. Er schüttelte den Kopf.
    »Meine Eltern«, sagte er leise. »Das andere dort ist meine Frau.«
    Auf dem Boden des Koffers lag ein großer Silberrahmen mit schwarzem Flor. Es war das Foto einer älteren Dame mit grauem Haar und strengem Blick. Sie stellte das Hochzeitsfoto auf den Nachttisch, drehte sich zu schnell um und blieb mit dem Ärmel am Rahmen hängen. Es fiel auf den Boden, das Glas zersprang.
    »Vorsicht!«, rief er und eilte, so schnell ihm das möglich war, auf sie zu. Er riss ihr das Bild aus den Händen und stellte es selbst zurück an den Platz.
    » Przepraszam  – entschuldigen Sie bitte.«
    »Sie sind Polin?«
    »Ja.«
    »Woher?«
    »Aus der Gegend von Zielona Góra.«
    Er legte den Stock vorsichtig an der Bettkante ab und wollte sich setzen. Sie half ihm dabei. Seine Bewegungsfähigkeit war eingeschränkt.
    »Grünberg«, sagte sie. »Die Deutschen nennen es immer noch Grünberg.«
    »Ah!« Ein Lächeln zuckte über sein faltenzerfurchtes, derbes Gesicht. »Die Weinstadt des Ostens.«
    Des Westens, mein Herr. Zielona Góra liegt im Westen von Polen.
    Sie nahm die zweite Fotografie aus dem Koffer.
    »Und Frau Gemahlin? Wohin?«, fragte sie.
    Er deutete auf den kleinen Tisch, der am Fenster stand. Sie stellte das Foto so auf, dass er es vom Bett aus sehen konnte.
    »Wie heißen Sie?«
    »Krystyna.«
    »Christina. Christina aus Grünberg. In der Vordertasche sind einige Dinge, die in den Safe sollen.«
    Die Wertsachen. Das Letzte, was ihnen blieb.
    Krystyna hatte kein Interesse an diesen Wertsachen. Anfangs hatten sie die kleinen Besitztümer, die Souvenirs eines Lebens noch gerührt. Doch es war ein großes Heim mit mehr als einhundert Bewohnern. Sie kamen und gingen zu schnell. Wie oft wurde jemand hinausgetragen, den sie gekannt hatte, meist nachts, um die anderen nicht zu beunruhigen, und zwei Tage später war das Zimmer frisch gestrichen und konnte neu bezogen werden. Was hatten die alten Menschen schon anderes bei sich als ein Fotoalbum, eine goldene Armbanduhr, etwas Bargeld? Das meiste war längst verschenkt. Die Frauen
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