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Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)

Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Elisabeth Herrmann
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immer.«
    Kevin nickte. »Wobei, wenn ich mich so in der Runde umsehe … einer fehlt.«
    Das war mir auch schon aufgefallen. Spätestens seit dem dezenten Hinweis auf Mutters Couch.

4
    Krystyna Nowak fuhr hoch. Das Quietschen der Schranktür hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie in die Dunkelheit. War es der Alptraum? War es Hanni?
    Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Im Flur der kleinen Zweizimmerwohnung brannte Licht. Aufatmend ließ sie sich zurück ins Kissen fallen. Ihre Mitbewohnerin hatte in dieser Woche Nachtschicht.
    »Hanni?«
    »Hab ich dich geweckt?«, kam ein Flüstern zurück. Eine schlanke Gestalt öffnete Krystynas Tür einen Spalt breit. »Es ist gleich fünf. Wann musst du raus?«
    Krystyna warf einen Blick auf die Leuchtziffern ihres Weckers. »In einer halben Stunde.«
    »Ich lass dir einen Kaffee in der Thermoskanne.«
    »Danke.«
    Während sie dem leisen Klappern aus der Küche lauschte, wusste sie, dass sie keinen Schlaf finden würde. Seit Wochen ging es so. Seit …
    Dieses Quietschen. Es verfolgte sie bis in ihre Träume. Es war das gleiche Geräusch wie überall auf der Welt, wo Schranktüren schlecht geölt waren. Doch würde sie es je wieder hören können, ohne an jene Nacht zu denken? Sie spürte, wie ihr Herz unregelmäßig schlug. Schnell, wie im Galopp, ein bis zum Äußersten getriebener Muskel. Irgendwann würde es zerreißen.
    Was habe ich getan? Mein Gott, was habe ich getan?
    Verflucht der Tag, verflucht die Stunde. Verflucht ein Leben. Nie wieder eine Schranktür öffnen, ohne dass einem das Herz aus der Brust springen wollte. Wenn es einen Weg gäbe, alles ungeschehen zu machen, sie würde ihn gehen. Nackt, mit blutenden Füßen, vor aller Augen kriechend und wimmernd, würde sie ihre Schuld gestehen. Doch es gab ihn nicht. Was passiert war, war unumkehrbar. Lass die Toten ruhen, dachte sie. Du tust keinem Lebenden damit einen Gefallen.
    Krystyna versuchte, sich in einen Halbschlaf zu dämmern. Sie dachte an Blumenwiesen und das halbe Hähnchen, das noch im Kühlschrank lag. Sie dachte an ihre Kinder Lenka und Tom, an ihre Schwester und deren Tochter, die kleine Gośka, ein blondes Mädchen mit Grübchen in beiden Wangen, wenn es lachte. Und es lachte oft. Jedes Mal, wenn Krystyna zu Besuch kam. Jedes Mal hatte sie etwas für die Kleine dabei. Ein Spielzeug, ein Kleidchen … Unmerklich glitt sie hinein in diesen halbwachen Zustand des Bewusstseins, in dem man machtlos war. Wieder quietschte die Schranktür. Wieder begann ihr Herz zu rasen. Dieses Mal schreckte sie nicht hoch. Dieses Mal blieb sie in den Fängen der Träume, verhedderte sich in einem Netz aus Bildern, einem Sog, der Gośkas Lachen mit sich trug, doch es flog vorbei, und andere Bilder kamen: das faltige Gesicht einer alten Frau wie eine Totenmaske auf dem Kissen. Jeder Atemzug mit einer längeren Pause dazwischen, bis der letzte ausgehaucht war und die Finger in ihren Händen erkalteten.
    Sie weint. Weint sie? Wie lange weint sie? Wann ist sie aufgestanden, um das Zimmer zu verlassen? Da schlägt die Frau hinter ihrem Rücken die weißen Augen auf. Ich muss zur Post, flüstert sie. Zur Post …
    Krystyna geht und ist in dem anderen Haus mit den vielen Türen. Nacht ist es. Die dichten Vorhänge halten das Licht der Straßenlaternen ab. Endlos lange Flure in dämmrigem Dunkel. Hinter jeder Tür ein Seufzen. Ein ausgehauchtes Leben. Eine Kathedrale der verlorenen Erinnerungen. Es ist die letzte Tür, vor der sie stehen bleibt und noch einmal tief Luft holt, ehe sie das Zimmer betritt. Der Traum ist so real, dass sie sogar glaubt, den Geruch riechen zu können: Putzmittel, Wäschestärke, Windeln und ein Hauch von diesem schweren, uralten Parfum, das eine der Damen immer trägt, weil es sie an jenen Abend in der Oper erinnert, an dem sie ihren Mann kennengelernt hat. Alles ist so echt. Sogar die Angst, die ihr fast den Hals abschnürt.
    Du musst diesen verdammten Schlüssel zurückbringen, bevor er es merkt.
    Vorsichtig öffnet sie die Schranktür und betet, dass der Mann nicht aufwacht. Die Vorhänge sind zugezogen, der Raum liegt in schummrigem Halbdunkel.
    Die Tür quietscht. Sie hält den Atem an und rührt sich nicht. Der Mann wirft sich unruhig von einer Seite auf die andere. Sie wartet, bis es wieder still ist. Dann schiebt sie die Anzugjacken und Hosenbügel so leise wie möglich zur Seite. Sie spürt, wie ihre Hände zittern.
    Du hast dich nicht unter Kontrolle.
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