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Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)

Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Elisabeth Herrmann
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steckte ihre Unterlagen in die Aktenmappe und verschloss sie. Dann stand sie auf.
    »Ich muss mich auf Ihre Verteidigung konzentrieren. Ich kann nicht eine Großstadt nach einer verschwundenen Frau absuchen.«
    »Ihr ist etwas passiert.« Er rieb sich mit der Hand über die Augen. Ein plötzlicher Moment der Schwäche. Ihm musste wirklich viel an dieser Hoffmann liegen.
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Er stand ebenfalls auf. Der Wachmann löste die Handschellen und kam auf sie zu.
    Jacek beugte sich vor. Für einen Moment waren sie sich nah, sehr nah. Seine drahtigen Haare kitzelten ihre Wange. Sie konnte den Tabak riechen, den Schweiß. Und etwas, das sie nicht beschreiben konnte, das aber einen überwältigenden Fluchtreflex in ihr auslöste.
    »Weil sie in dieser Nacht bei mir war und etwas mit ihr passiert ist«, flüsterte er.
    Dann hielt er dem Offizier die Hände entgegen.
    Sie sah ihm hinterher, als er abgeführt wurde. Ihr Gesicht brannte, als hätte sie zwei schallende Ohrfeigen bekommen. Eine Sekunde lang hatte sie geglaubt, er hätte sie küssen wollen. So etwas Absurdes war ihr noch nie passiert. Sie nahm ihre Aktentasche und ließ sich von dem zweiten Wachoffizier nach draußen bringen.
    Der Himmel war grau. Ein kühler Wind fegte durch die Straßen. Zuzanna fröstelte und stellte in ihrem Auto als Erstes die Heizung an. Dann legte sie die Hände auf die Wangen, um sie zu kühlen.
    Du bist so eine Vollidiotin, dachte sie. Du lässt dich von einem U-Häftling nach Strich und Faden verarschen. Noch dazu bist du so ausgehungert, dass eine simple Berührung in dir eine solche Reaktion hervorruft. Sie war wütend auf sich selbst und ihr unsouveränes Verhalten.
    Marie-Luise Hoffmann war also in der Tatnacht bei Jacek Zielińksi gewesen. Das war immerhin ein Anfang. Sie startete den Motor und wartete eine Lücke im fließenden Verkehr ab, um sich einzufädeln. Eins konnte sie Jacek Zieliński jetzt schon versprechen: Sie würde diese Frau finden. Und dann würde sich herausstellen, welche Rolle Marie-Luise Hoffmann in diesem Fall spielte. Die der Zeugin oder die der Mittäterin.
    An der nächsten Ampel scherte sie aus, stellte sich mit eingeschalteter Warnblinkanlage an den Straßenrand und rief den Staatsanwalt an.

3
    Wann hatte ich das letzte Mal die Dunckerstraße gesehen? Wann war ich über die zerborstenen schlesischen Granitplatten gelaufen, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus den Steinbrüchen von Striegau und Strehlen in die boomende Metropole geliefert worden waren? Das Haus erkannte ich schon von weitem. Die Renovierung hatte ihm den Gründerzeitcharme geraubt und es nahtlos in die Reihe der steinernen Gentrifizierungsopfer dieses Bezirks eingereiht. Toskanagelb die Fassade, aluminiumgrau die Balkons. Der kleine Bäcker nebenan war verschwunden, ebenso wie der Spätkauf an der Ecke, bei dem man auch noch nach Mitternacht lebensnotwendige Dinge wie Kaffeebohnen (ich) und Tabak (Marie-Luise) erstehen konnte. Stattdessen gab es jetzt Schokoladenmanufakturen, Holzspielzeugläden, Papeterien und Coffeeshops, also all das, was man zum Leben in einem ehemaligen Berliner Arbeiterbezirk dringend benötigte.
    Neben dem Tor hing eine große Metalltafel mit den Firmenschildern der neuen Mieter. Ich kannte keinen einzigen davon. Der Durchgang zum Innenhof war nicht abgeschlossen. Die wilden Levkojen, die Hanfpflanzen, die Bierkistenstapel, die illegalen Stromkabel auf Putz waren längst verschwunden. Anstelle des Kopfsteinpflasters waren Terrakottafliesen verlegt worden. Das war definitiv nach meiner Zeit geschehen. Ebenso der schleichende Auszug all der vertrauten Mitmenschen, die mich manchmal den letzten Nerv gekostet hatten. Eine, Frau Freytag, um ein Haar sogar mein Leben. Die Gasexplosion hatte uns letzten Endes eine Grundsanierung auf Kosten der Gebäudeversicherung beschert. Doch dann kam der neue Mietpreisspiegel, und die Nachbarn verschwanden einer nach dem anderen. Irgendwann war auch ich gegangen. Das alles hatte nichts mit den Nebenkosten zu tun. Es hatte einen anderen Grund gehabt.
    Ich sah die Fassade des Quergebäudes hoch und erinnerte mich an die verrückte französische Sängerin. An die Studenten, das schwule Paar, das seine Hochzeit mit einem rauschenden Fest im Hof gefeiert hatte. Nur Frau Freytag war nicht mehr zurückgekehrt. Noch lange hatte ich instinktiv, wenn ich das Treppenhaus betrat, nach ihren Katzen Ausschau gehalten.
    Nun war es ein cleanes Haus geworden. Hier lebten keine
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