Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Versteckt

Versteckt

Titel: Versteckt
Autoren: Jack Ketchum
Vom Netzwerk:
sich verzweifelt an die felsigen Klippen klammern. Oder man ist rank und schlank wie die Ausläufer, die im Frühling aus dem Boden schießen und die Pinien zu ersticken drohen – so wie Rafferty und ich.
    Dieses Mädchen dagegen war nirgendwo einzuordnen. Sie kam aus gutem Hause, hatte einen wohlgeformten Körper, den sie mit lässiger Kraft bewegte. Und eine Haut, von der die meisten Frauen nur träumen können. Sie tauchte so geschmeidig wie ein Seehund auf und lachte – bei einer Wassertemperatur, die eigentlich nur Seehunde aushalten können.
    Dann öffnete sie die Augen. Und das war eine weitere Offenbarung.
    Ihre Augen waren derart hellblau, dass man sie zunächst für farblos hätte halten können. Totenaugen, hätte mein braunäugiger Vater dazu gesagt. Unergründlich. Wie die Farbe des ruhigen, flachen Meeres an einem Korallenstrand. Sie nahmen das Licht nicht auf, sie reflektierten es.
    Es musste unwahrscheinlich kalt sein. Sie tauchte unter, rollte einmal herum und sah wieder in unsere Richtung. Nur der Kopf und der Hals ragten aus dem Wasser. Sie zitterte, hatte die Lippen geöffnet und blinzelte, als wäre sie blind. Obwohl ich im warmen Schein der Sonne saß, spürte ich die Kälte, die sie fühlen musste, bis in die Knochen.
    Es heißt, dass man durch sehr kaltes Wasser in Ekstase geraten kann. Doch vorher kommt der Schmerz.
    Ihre Gesichtsmuskeln verkrampften sich. Sie hatte definitiv Schmerzen.
    Als sie wieder ans Ufer watete, beobachtete ich die Trop fen, die an ihrer Haut hinunterliefen. Bis auf die Farbe ihres Schamhaars ließ der Bikini keine Fragen offen. Sie war kräftig, das war offensichtlich.
    Sie schlenderte direkt an mir vorbei.
    Ich sah ihr hinterher. Ihr Blick wanderte hierhin und dorthin, dann kehrte sie zu ihren Freunden zurück. Hatte sie mich tatsächlich angesehen? Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
    Rafferty hatte sie bestimmt keines Blickes gewürdigt. Er wirkte nicht besonders anziehend auf Frauen. Mit Anfang zwanzig wurde er immer noch von starker Akne geplagt. Er hatte Motorölflecken an den Händen und ein vom Whiskey gerötetes Gesicht. Ich war zwar auch nicht der Schönste, aber wenigstens hatte ich keine glasigen Augen. Außerdem war ich einigermaßen in Form – das bin ich heute noch –, und vor zwei Jahren waren die wenigen Pickel verschwunden, die mich die Pubertät hindurch bis zu meinem achtzehnten Geburtstag gequält hatten. Also kam nur ich infrage.
    Das hoffte ich zumindest.
    Bei der Vorstellung schnürte sich meine Kehle zusammen – gar kein unangenehmes Gefühl, fast als würde sich dort eine Schlange behaglich zusammenrollen. Ich trank ein Bier, aber das Gefühl blieb.
    Ich konnte nicht einfach sitzen bleiben. Ich wollte zu ihr hochschlendern und sie anquatschen. Dummerweise war ich ziemlich schüchtern.
    Außerdem spielte ich nicht annähernd in ihrer Liga.
    Ich arbeitete in einer Sägemühle.
    Ich verkaufte Holzlatten und Kiefernholzbretter und Spanplatten an Hand- und Heimwerker.
    Das College hatte ich erst mal auf Eis gelegt, und dort konnte es von mir aus auch bleiben. Klar, ich las viel und hatte ganz gute Zeugnisse, aber auf Schule hatte ich noch weniger Lust als auf Dead River. Das sollte sich später ändern, doch damals war ich mit drei fünfzig die Stunde und einer Kellnerin namens Lyssa Jean ganz zufrieden. Ein nettes Mädchen.
    Nach diesem Tag am Strand haben wir uns allerdings nie wieder getroffen. Nicht ein einziges Mal. Tut mir leid, Lyssa Jean.
    Ich hielt noch eine Stunde durch und hoffte darauf, dass sie noch mal schwimmen ging. Vergebens. Rafferty redete inzwischen mit Lydia Davis, und ich wurde ungeduldig.
    Erst wenn die Touristen kamen, taute Lydia auf. In der Nebensaison war sie mit Abstand das hübscheste Mädchen, das Dead River zu bieten hatte. Dann konnte man ihr den ganzen Abend über Drinks spendieren und erhielt grade mal ein Lächeln dafür. Sobald sie Konkurrenz witterte, wurde sie erheblich netter.
    Rafferty wollte deshalb noch bleiben und die Gunst der Stunde nutzen. Er grinste sie mit schiefen Zähnen an.
    Irgendwann reichte es mir.
    Rafferty hatte mich zwar in seinem Wagen mitgenommen, aber ich konnte jederzeit per Anhalter zurückfahren. Ich packte meine Sachen zusammen, zog Jeans, Hemd und Turnschuhe an und ging zum Trampelpfad hoch.
    Auf dem Weg kam ich an ihnen vorbei. Ein großer, dünner Junge mit dunkler Haut, dunklen Haaren und einer spitzen, geraden Nase. Und eine hübsche Blondine – etwas zu füllig für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher