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Versteckt

Versteckt

Titel: Versteckt
Autoren: Jack Ketchum
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Vater?«
    »Nein.«
    »Wem dann?«
    Sie zuckte mit den Schultern und sagte, das wäre egal. »Bist du hier geboren? Hier aufgewachsen und so?«
    »Genau wie mein Vater vor mir.«
    »Gefällt’s dir hier?«
    »Nicht besonders.«
    »Warum gehst du dann nicht weg?«
    »Ich bin zu faul, schätze ich. Bis jetzt hatte ich noch keinen Grund dazu.«
    »Hättest du denn gerne einen?«
    »Hab ich noch nie drüber nachgedacht. Keine Ahnung.«
    »Dann denk drüber nach. Was, wenn du die Chance dazu bekämst – würdest du von hier abhauen?«
    »Ich soll jetzt gleich drüber nachdenken?«
    »Hast du was Besseres vor?«
    »Nein.«
    Also gut. Sehr merkwürdig für so eine spontane Frage, aber ich dachte darüber nach. Und ich fragte mich, warum sie sie gestellt hatte.
    »Ja, glaub schon. Ja.«
    »Gut.«
    »Wieso ist das gut?«
    »Du bist süß.«
    »Und?«
    »Dann ist es nicht so schlimm, wenn du nichts in der Birne hast.«
    Darauf gab es nichts zu sagen. Wir fuhren weiter, und ich sah ihr dabei zu, wie sie aus dem Fenster starrte. Die Sonne ging unter. In ihrem Haar leuchteten rote Strähnen. Der Bogen von ihrem Hals zu den Schultern war weich und elegant.
    Wir erreichten Willoughby, jenen Stadtteil von Dead River, der einem Nobelviertel wohl noch am nächsten kam.
    »Halt mal an.«
    »Willst du nicht nach Hause?«
    Sie lachte. »Nicht damit. Halt an.«
    Sie meinte wohl den Bikini. Ihre Eltern waren anscheinend ziemlich streng. Ich hielt am Straßenrand an, stellte den Motor ab und griff nach den Schlüsseln.
    »Lass sie stecken.«
    Sie öffnete die Tür und stieg aus.
    »Wieso denn? Was ist mit dem Auto?«
    Sie ging einfach los. Ich schlug die Tür zu und lief ihr hinterher.
    »Wir lassen es hier stehen.«
    »Willst du die Schlüssel nicht mitnehmen?«
    »Nein.«
    Da kapierte ich.
    »Sagst du mir deinen Namen? Damit ich weiß, zu wem ich die Bullen schicken muss.«
    Sie lachte wieder. »Casey Simpson White, Willoughby Lane Nr. 7, nicht vorbestraft. Und du?«
    »Dan Thomas. Ich hab schon was auf dem Kerbholz.«
    »Und was?«
    »Sie haben mich mit fünf oder so erwischt. Ein Kumpel und ich haben einen Hinterhof mit Feuerzeugbenzin in Brand gesteckt. Außerdem …«
    »Außerdem? Da kommt noch mehr?«
    »Später, ja. War aber nicht so aufregend wie Autodiebstahl. Eigentlich kaum der Rede wert.«
    Ich griff nach ihrem Arm und spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper strömte. Es war das erste Mal, dass ich ein Auto gestohlen hatte, was mich einigermaßen nervös machte. Ihre Haut war weich und glatt. Sie zog den Arm nicht zurück.
    »Bist du irre?«
    Sie blieb stehen und sah mir direkt in die Augen.
    »Spendier mir einen Drink und find’s raus.«
    Jetzt war ich mit Lachen an der Reihe. »Du bist doch noch keine einundzwanzig, oder?«
    »So gut wie.«
    »Das habe ich nicht gehört. Also los.«

3
    Das war die Geschichte mit dem gestohlenen Auto, bei der sie mir zum ersten Mal so richtig Angst eingejagt hat.
    Um ehrlich zu sein: Es gefiel mir.
    Ein Mädchen, das nicht nach den Regeln spielte – das die Regeln noch nicht mal kannte. Ich jedenfalls kannte nach den zwanzig Jahren, die ich in Dead River verbracht hatte, die Regeln in- und auswendig.
    Die Regeln machten einen zu dem, was man war, und sorgten dafür, dass sich das nicht änderte. Kinder wurden zu Jugendlichen, Jugendliche zu Erwachsenen, die hart arbeiteten, damit sie sich Kinder und ein Haus und ein Auto leisten konnten, und niemand tanzte aus der Reihe. Das war Regel Nummer eins. Man tanzte nicht aus der Reihe. So war das auch bei meinen Eltern. Die Regel besagte: Schön, jetzt bist du in die Bärenfalle getappt, aber das ist ganz allein deine Schuld, also erwarte nicht von uns, dass wir dir helfen. Das ist ja Sinn und Zweck der Falle, oder? Und immer ging es ums Geld. Schon die kleinste Rezession brach wie eine Flutwelle über unsere kleine Gemeinde herein. Wir waren ständig am Rande des Bankrotts. Wenn in Boston der Preis für Fisch fiel, musste sich die halbe Stadt vor der Bank anstellen und um Kredite betteln.
    Das hätte uns eigentlich abhärten sollen, aber so war es nicht. Mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern krochen wir verbittert dem Alter und dem Tod entgegen.
    Vor drei Jahren zog ich von zu Hause aus. Ich konnte es nicht mehr ertragen, wenn mein Vater pleite und erschöpft nach Hause kam, nachdem er eine ganze Saison lang in Passamaquoddy Bay Sardinen verladen hatte. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie das Haus meiner Mutter langsam
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