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Vermiss mein nicht

Vermiss mein nicht

Titel: Vermiss mein nicht
Autoren: Cecelia Ahern
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sich meine Mum, auch beim Anblick des umgekippten Wäschekorbs ihr gelassenes Lächeln aufrechtzuerhalten. Alle säuberlich zusammengefalteten Sachen lagen chaotisch auf dem Boden herum. Für eine kurze Sekunde konnte ich hinter die Fassade blicken. Wenn ich geblinzelt hätte, wäre es mir entgangen, aber ich sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie rasch und verstohlen nach unten schaute. Es war die nackte Angst. Nicht wegen der vermissten Socke, nein, meine Mutter hatte Angst um
mich
. Doch unverzüglich klebte sie ihr Lächeln wieder an und zuckte die Achseln, als wäre nichts geschehen.
    »Vielleicht hat der Wind sie weggeblasen, ich hab vorhin die Verandatür aufgemacht«, meinte sie lächelnd.
    Ich schüttelte entschieden den Kopf.
    »Sie könnte auch aus dem Korb gefallen sein, als ich ihn rübergetragen habe.«
    Erneutes Kopfschütteln meinerseits.
    Sie schluckte, und ihr Lächeln wurde noch verkniffener. »Vielleicht hat sie sich zwischen den Laken verfangen. Die sind riesig, da übersieht man so eine kleine Socke schon mal.«
    »Ich hab aber nachgeschaut.«
    Sie nahm sich einen Keks vom Tisch und biss viel zu heftig hinein, weil ihr Gesicht vom Lächeln schmerzte und sie sich irgendeine Erleichterung verschaffen musste. Dann kaute sie eine Weile, tat so, als würde sie nicht nachdenken, sondern dem Radio lauschen, summte dabei aber einen ganz anderen Song. Sie wollte mir unbedingt weismachen, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte.
    »Honey«, lächelte sie schließlich wieder. »Manchmal gehen Dinge einfach verloren.«
    »Aber wo kommen sie denn hin, wenn sie verloren gegangen sind?«
    »Sie
kommen
nirgendwohin«, lächelte sie. »Sie bleiben einfach dort, wo die Person sie fallen lassen oder vergessen hat. Wir suchen einfach nur nicht an der richtigen Stelle, wenn wir etwas nicht finden können.«
    »Aber ich hab
überall
gesucht, Mum. Das tu ich
immer

    Das stimmte. Ich drehte jeden Stein um, ich kehrte das Unterste zuoberst, und in unserem kleinen Haus gab es garantiert keinen Winkel, den ich vergaß.
    »Eine Socke kann ja ohne Fuß nicht einfach so wegmarschieren«, pseudolachte sie.
    Seht ihr, genau an diesem Punkt, an dem Mum aufgab, hören auch die meisten anderen Leute auf zu überlegen. Auf einmal kümmert es sie nicht mehr, was eigentlich los ist. Man findet etwas nicht, man weiß, es muss irgendwo sein, aber obwohl man
überall
nachgeschaut hat, bleibt es verschwunden, spurlos. Von einem Moment zum andern gibt man sich damit zufrieden, hält sich vielleicht für verrückt, gibt sich die Schuld, dass man das Betreffende verloren hat, und vergisst den Vorfall irgendwann. Aber genau das konnte ich nicht.
    Ich weiß noch, wie mein Dad an diesem Abend von der Arbeit zurückkam, in ein Haus, in dem buchstäblich nichts mehr an seinem angestammten Platz war.
    »Hast du was verloren, Honey?«
    »Eine von meinen blau-weiß gestreiften Socken«, ertönte gedämpft meine Antwort von unter dem Sofa.
    »Wieder nur die eine?«
    Ich kam zum Vorschein und nickte.
    »Die linke oder die rechte?«
    »Die linke.«
    »Okay, ich schau mal oben nach.« Er hängte seinen Mantel an die Garderobe neben der Tür, stellte den Schirm in den Schirmständer, gab seiner nervösen Frau einen zärtlichen Kuss auf die Wange und strich ihr beruhigend mit der Hand über den Rücken. Dann ging er die Treppe hinauf. Zwei Stunden lang verschanzte er sich im Elternschlafzimmer und suchte. Aber ich hörte ihn nicht umhergehen, und als ich nach einer Weile einen Blick durchs Schlüsselloch riskierte, sah ich, dass er mit einem nassen Waschlappen über dem Gesicht auf dem Bett lag.
    Bei meinen Besuchen in späteren Jahren stellten meine Eltern stets dieselben entspannten Fragen, die niemals übergriffig sein sollten, sich für jemanden, der schon bis zur Nasenspitze mit Argwohn gewappnet war, aber so anhörten.
    »Irgendwelche interessanten Fälle bei der Arbeit?«
    »Was gibt’s Neues in Dublin?«
    »Wie ist die Wohnung?«
    »Fester Freund in Sicht?«
    Es war nie ein fester Freund in Sicht; ich hatte keine Lust, mich tagaus, tagein von einem weiteren durchdringenden Augenpaar piesacken zu lassen. Ich hatte Liebhaber und Kontrahenten, Jungs, Männer, Freundinnen, verheiratete Freunde und Bekannte. Ich hatte genug ausprobiert, um zu wissen, dass bei mir auf Dauer keine Beziehung funktionieren würde, denn ich ertrug keine Nähe, war nicht anhänglich genug, konnte nicht genug geben und brauchte auch nicht genug. Ich hatte
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