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Vermiss mein nicht

Vermiss mein nicht

Titel: Vermiss mein nicht
Autoren: Cecelia Ahern
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Antworten auf all unsere Fragen hatten. Seit Jenny-May weg war, konnte ich sie viel besser leiden, und auch das erschien mir bemerkenswert. Ich vermisste sie, ich vermisste die
Vorstellung
von Jenny-May Butler und überlegte, ob sie wohl irgendwo in der Nähe war, andere Kinder mit Steinen bewarf und dabei laut und gehässig lachte. Aber wir fanden sie nicht, und ich hörte sie auch nicht lachen. Nach ihrem Verschwinden fing ich an, nach allem Möglichen zu suchen. Wenn eine meiner Lieblingssocken fehlte, stellte ich das ganze Haus auf den Kopf, suchte und suchte, während meine besorgten Eltern mich ratlos beobachteten. Meistens endete es damit, dass sie mir beim Suchen halfen.
    Es beunruhigte mich, wenn ich Sachen verlor und nicht finden konnte, und wenn dann doch einmal etwas wieder auftauchte, war es meist nur eine einzelne poplige Socke, was ich ebenfalls irritierend fand. Dann stellte ich mir wieder vor, wie Jenny-May Butler irgendwo mit Steinen warf, gehässig lachte und dabei meine Lieblingssocken anhatte.
    Ich wollte nie etwas Neues für meine verschwundenen Sachen haben. Schon mit zehn Jahren war ich überzeugt, dass man etwas Verlorenes nicht ersetzen kann. Ich beharrte darauf, dass es wiedergefunden werden musste.
    Vermutlich machte ich mir noch mehr Gedanken über Jenny-May Butler und die einzelnen Socken als Mrs. Butler. Aber wir waren beide nachts wach und grübelten.
    Vielleicht ist mir alles deshalb passiert. Vielleicht habe ich, weil ich so viele Jahre damit verbracht habe, in meinem Leben das Oberste zuunterst zu kehren und krampfhaft nach allem Möglichen zu suchen, irgendwann vergessen, mich um mich selbst zu kümmern, mich zu fragen, wer und wo ich eigentlich war.
    Vierundzwanzig Jahre nach Jenny-May Butlers Verschwinden verschwand ich ebenfalls.
    Hier ist meine Geschichte.

Zwei
    In meinem Leben hat das Schicksal eine Menge Ironie bewiesen, und dass ich verschwunden bin, ist nur einer von vielen absurden und aberwitzigen Vorfällen. Ich würde gern darüber lachen, wenn ich nicht meinen Sinn für Humor verloren hätte, als ich selbst verloren gegangen bin.
    Zuerst einmal bin ich einen Meter fünfundachtzig groß. Schon als Kind habe ich fast immer alle um mich herum überragt. Im Einkaufszentrum konnte ich nicht unauffällig in der Menge untertauchen wie andere Kids, beim Versteckspielen wurde ich immer als Erste gefunden. In der Disco forderte mich keiner zum Tanzen auf, und ich war vermutlich der einzige weibliche Teenager, der nicht den dringenden Wunsch verspürte, endlich hochhackige Schuhe tragen zu dürfen. Jenny-May Butler nannte mich gern eine blöde Bohnenstange und zwang mich regelmäßig jeden Dienstag um zehn, vor aller Augen ein Buch für sie aus der obersten Reihe der Schulbibliothek zu angeln. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Ich war diejenige, die man meilenweit sehen konnte, ich war diejenige, die auf dem Tanzparkett ungelenk rumhampelte, ich war diejenige, hinter der im Kino niemand sitzen wollte, ich war die, die im Jeansgeschäft nach Hosen mit Überlänge fragen musste. Kurz gesagt, ich falle auf wie ein bunter Hund, und jeder, der an mir vorbeigeht, bemerkt mich und erinnert sich später an mich. Lassen wir die vereinzelten Socken und ausnahmsweise auch Jenny-May Butler beiseite – die Krönung all dieser unerklärlichen Vorkommnisse war eindeutig, dass ausgerechnet ich, das schwarze Schaf in einer durchgängig weißen Herde, plötzlich unsichtbar war. Das Rätsel, das ich mir selbst aufgab, übertraf alle anderen bei weitem.
    Die zweite große Ironie meines Lebens besteht darin, dass ich beruflich nach vermissten Personen suchte. Nach dem Schulabschluss wurde ich Polizistin und arbeitete am liebsten an Fällen, in denen jemand vermisst wurde. Aber da es dafür keine eigene Abteilung gab, spielte mir der Zufall nur gelegentlich etwas nach meinem Geschmack in die Hände. Wisst ihr, die Situation mit Jenny-May Butler brachte in mir echt etwas in Bewegung. Ich wollte Antworten, Lösungen, und ich wollte sie alle selbst finden. Vermutlich mutierte meine Sucherei dabei zu einer Art Besessenheit, und ich war so damit beschäftigt, in der Außenwelt nach Hinweisen zu forschen, dass ich nicht ein einziges Mal überlegte, was eigentlich in meinem eigenen Kopf vor sich ging.
    Bei der Polizei fanden wir manchmal Leute in einem Zustand wieder, den ich für den Rest meines Lebens und noch weit ins nächste hinein nicht vergessen werde, und es gab auch Menschen, die einfach
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