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Verlorene Seelen

Verlorene Seelen

Titel: Verlorene Seelen
Autoren: Nora Roberts
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doch der Name ließ ihn innehalten. »Laura. Kannten Sie Laura?«
    »Nein, ich kannte sie nicht.« Jetzt hielt er das Humerale mit beiden Händen fest, schien es jedoch im Moment vergessen zu haben. Sag etwas, ermahnte sie sich, um gegen den Schrei anzukämpfen, der ihr in der Kehle steckte. Rede mit ihm, hör ihm zu. »Erzählen Sie mir von ihr.«
    »Sie war wunderschön, wenn auch auf jene fragile Weise, bei der man sich ängstlich fragt, ob so etwas Bestand haben kann. Meine Mutter machte sich Sorgen, weil Laura sich gern im Spiegel betrachtete, sich gern das Haar bürstete und gern hübsche Kleider trug. Mutter spürte, wie der Teufel Laura zur Sünde verleiten wollte und ihr schlimme Gedanken eingab. Doch Laura lachte nur und sagte, sie habe nichts dafür übrig, in Sack und Asche zu gehen. Laura hat immer viel gelacht.«
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    »Sie haben sie sehr geliebt.«
    »Wir waren Zwillinge. Wir haben schon vor der Geburt das Leben miteinander geteilt. So hat es meine Mutter ausgedrückt. Gott hat uns miteinander verbunden. Es wäre meine Aufgabe gewesen, Laura davon abzuhalten, sich von der Kirche und von allem, was man uns beigebracht hatte, abzuwenden. Es wäre meine Aufgabe gewesen, aber ich habe versagt.«
    »Inwiefern?«
    »Sie war erst achtzehn. Wunderschön und zart war sie, aber ihr Lachen war verschwunden.« Tränen rannen glitzernd über seine Wangen, ohne daß er in Schluchzen ausgebrochen wäre. »Sie wurde in Versuchung geführt.
    Ich war nicht da, um auf sie aufzupassen, und sie ist der Versuchung erlegen. Illegale Abtreibung. Die Strafe Gottes. Aber warum mußte Gottes Strafe so hart ausfallen?« Sein Atem beschleunigte sich und wurde immer lauter, während er die Hand gegen die Stirn preßte.
    »Ein Leben für ein Leben. Das ist nur gerecht. Ein Leben für ein Leben. Sie flehte mich an, sie nicht sterben zu lassen, sie nicht in Sünde sterben zu lassen, einer Sünde, die so groß war, daß sie in die Hölle kommen würde. Ich hatte nicht die Macht, ihr Absolution zu erteilen. Selbst als sie sterbend in meinen Armen lag, hatte ich keine Macht dazu. Die Macht ist erst später gekommen, nach der Verzweiflung, nach der dunklen leeren Zeit. Ich kann es Ihnen zeigen. Ich muß es Ihnen zeigen.«
    Er trat vor und schlang Tess, obwohl sie instinktiv zurückwich, das Tuch um den Hals. »Lou, Sie sind Polizist. Es ist Ihre Pflicht, andere zu beschützen.«
    »Beschützen.« Seine Finger, die das Tuch hielten, zitterten. Polizist. Er hatte Pudge ein Betäubungsmittel in den Kaffee schütten müssen. Es wäre falsch gewesen, 441
    mehr zu tun, einem anderen Polizisten Schaden
    zuzufügen. Beschützen. Der Hirte beschützt seine Herde.
    »Laura habe ich nicht beschützt.«
    »Nein, das war ein schrecklicher Verlust, eine Tragödie.
    Aber Sie haben doch versucht, Wiedergutmachung zu leisten, nicht wahr? Sind Sie nicht deswegen Polizist geworden? Um andere zu beschützen?«
    »Ich mußte lügen, aber nach Lauras Tod schien das keine Rolle zu spielen. Ich dachte, daß ich bei der Polizei vielleicht das finde, wonach ich auf dem Seminar gesucht hatte. Jenes Gefühl, einen Zweck zu erfüllen. Berufen zu sein. Indem ich das irdische, nicht das göttliche Gesetz vertrete.«
    »Ja, Sie haben geschworen, das Gesetz
    aufrechtzuerhalten.«
    »Viele Jahre später kam die STIMME wieder. Es gab sie wirklich.«
    »Ja, für Sie gab es sie tatsächlich.«
    »Sie ist nicht immer in meinem Kopf. Manchmal ist sie ein Flüstern im Nebenzimmer, manchmal schallt sie wie Donner von der Decke über meinem Bett. Sie hat mir gesagt, wie ich Laura und mich selbst retten kann. Wir sind miteinander verbunden. Wir sind immer miteinander verbunden gewesen.«
    Ihre Hand umklammerte die Schlüssel in ihrer Tasche.
    Sie wußte, daß sie sie benutzen würde, um ihm die Augen auszustechen, wenn er das Tuch zusammenzog. Um zu überleben. Das Verlangen weiterzuleben durchströmte sie.
    »Ich werde Sie von Ihren Sünden lossprechen«,
    murmelte er. »Und Sie werden Gott sehen.«
    »Jemandem das Leben zu nehmen ist eine Sünde.«
    Er zögerte. »Ein Leben für ein Leben. Ein gottgefälliges 442
    Opfer.« Der Schmerz in seiner Stimme war nicht zu überhören.
    »Jemandem das Leben zu nehmen ist eine Sünde«, wiederholte sie, während ihr das Blut in den Ohren hämmerte. »Wenn man tötet, bricht man das göttliche und das irdische Gesetz. Sie kennen sich mit beiden Gesetzen aus, da Sie Polizist und Priester sind.« Als sie die Sirene hörte, dachte sie
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